Kultur:Das Richtige im Falschen?

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Schwurgericht im Publikum: Das Bühnenbild erinnert an einen Verhandlungssaal. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Dem Theater in Gröbenzell gelingt eine starke Inszenierung von Ferdinand von Schirachs "Terror", in dem das Publikum über den Protagonisten richtet.

Von Karl-Wilhelm Götte, Gröbenzell

Kann man Menschenleben gegeneinander aufwiegen? Darf ein Kampfpilot 164 Menschen töten, um 70 000 zu retten? Das Bundesverfassungsgericht hat dazu Nein gesagt. Das Theater in Gröbenzell (TiG) hat sich im vollbesetzen Bürgerhaus an diesen wahrlich schweren Stoff herangewagt, den Ferdinand von Schirach in seinem Theaterstück "Terror" ausbreitet. Erstmals wurde es im Herbst 2015 am Deutschen Theater Berlin und am Schauspiel Frankfurt doppel-uraufgeführt und inzwischen an zahlreichen Bühnen gespielt.

Handlungsort ist ein fiktiver Schwurgerichtssaal. Angeklagt ist der Kampfpilot Lars Koch (Felix Bogenberger). Was hat ihn vor Gericht gebracht? Ein Terrorist hat auf dem Flug von Berlin nach München ein Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord entführt, um einen Anschlag auf die gerade voll besetzte "Allianz Arena" in München zu verüben. Der Angeklagte hatte gegen den Befehl seiner Vorgesetzten, die es aber auch versäumt hatten, das Stadion evakuieren zu lassen, die entführte Maschine abgeschossen, um die 70 000 Menschen in der Arena zu retten; dabei kamen jedoch alle 164 Passagiere des abgeschossenen Flugzeugs ums Leben. Koch wird von der Staatsanwältin hartnäckig angegangen, zeigt sich jedoch davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Felix Bogenberger spielt den Kampfpiloten Koch in Uniform ("absurdes Urteil des Bundesverfassungsgerichts ...ich würde es wieder tun") sehr glaubwürdig. Der diensthabende Soldat des Kontrollzentrums, Oberstleutnant Christian Lauterbach (Jan Mark), schildert als Zeuge detailliert den Ablauf der Entführung und des Abschusses. Die 68 Zuschauer fungieren in diesem Stück als Schöffen und urteilen zuletzt darüber, ob Lars Koch "schuldig" oder "nicht schuldig" ist.

Theater ist vor allem: Aktion. Doch auch ein Stück, in dem "nur geredet wird", kann faszinierend sein, wenn halt nicht nur "geredet" wird; wenn die auf der Bühne Agierenden es verstehen, alle schauspielerischen Mittel einzusetzen, um Emotionen und innere Konflikte zu zeigen und somit Spannung zu erzeugen. Denn Theater ist Sprache, aber auch Atem, Körpersprache, Mimik, Rhythmus, Musik. Das alles und die schiere Textmenge des "Terror"-Stücks, das mehr als zwei Stunden dauert, ist sogar für Profis eine Herausforderung - umso mehr für ein Laien-Ensemble. Wenn dann auch noch kurz vor der Premiere ein Krankheitsfall und damit eine "Übernahme" dazukommt, dann ist schon dafür ein kräftiger Applaus fällig - für die gerade mal 20 Jahre junge Regisseurin Sarah Agethen, das Ensemble, und die kühne "Einspringerin" Luisa Bogenberger, die mit sicherer Bühnenpräsenz als Staatsanwältin auftritt, als habe sie viele Wochen Proben hinter sich. Kurzfristig einspringen musste auch Yasmina Loukili in der Zeuginnenrolle. Auch sie präsentiert sich überzeugend als Ehefrau ihres Mannes in der abgeschossenen Maschine ("sie haben ihn umgebracht").

Die Leseproben des TiG haben schon im Oktober vergangenen Jahres begonnen. "Mit den Probenwochenenden und -tagen im Februar begann die heiße Phase", erzählt Regisseurin Agethen, die bei einem freiwilligen kulturellen Jahr am Münchner Residenztheater Erfahrungen gesammelt hat. Sie musste mit einem TiG-Ensemble von nur acht Schauspielerinnen und Schauspielern auskommen. Klug gelöst ist das Bühnenbild: Mitten unter den "Schöffen", also mitten im Publikum, ist der Gerichtssaal aufgebaut. Rechts der Richtertisch mit Richterin (Jutta Hatzold) und Protokollantin (Barbara Chlumsky); an beiden Seiten Staatsanwältin und Verteidigerin mit dem Angeklagten. Die Zeugen und der Angeklagte werden entfernt auf einem Stuhl - durch einen erhöhten Laufsteg mit dem Richtertisch verbunden - vernommen.

Ehe Jutta Hatzold als Richterin das Publikum zur Urteilsfindung aufruft, halten Staatsanwältin und Verteidigerin ihre Plädoyers. Wie Staatsanwältin Luisa Bogenberger geht auch Ingrid Prinz als Verteidigerin in ihrer Rolle eindrucksvoll auf. Leider musste, im akustisch herausfordernden Bürgerhaussaal, das Publikum über weite Strecken hinweg sehr "aufhorchen", was gerade bei einem so textlastigen Stück für manche in den letzten Reihen anstrengend gewesen ist. Doch "Stütze" und professioneller "Biss" lassen sich lernen - und so ist von diesem Ensemble, das am Premierenabend mit berechtigtem großen Applaus bedacht wird, sicher noch viel zu erwarten. Menschenleben dürfen nicht gegeneinander aufgewogen werden, hat das Bundesverfassungsgericht 2006 entschieden. Das spricht für eine Verurteilung von Lars Koch. Das Publikum urteilt am Premierenabend anders und votiert mit 42 zu 26-Stimmen klar für einen Freispruch des Angeklagten. Spielt die Kategorie des "übergesetzlichen Notstands" eine Rolle, um vom Verfassungsgerichtsurteil abzuweichen? Spannende Fragen des Rechts und der Moral, die sich auch bei den noch folgenden TiG-Aufführungen an allen Wochenenden bis zum 23. März immer wieder stellen werden.

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