Literatur:Frische Literatur für den Landkreis

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Vier Romane von jungen Autorinnen sind in der Endauswahl für den Puchheimer Leserpreis. Die Siegerinnen wird im November bekannt gegeben. (Foto: Nicola Bräunling/OH)

Die Puchheimer haben die Wahl: aus vier herausragenden neuen Romanen dürfen sie einen Gewinner für den Leserpreis wählen. Die nominierten Bücher im Überblick.

Von Florian J. Haamann, Puchheim

Es sind vier ganz außergewöhnliche Romane von jungen Autorinnnen, aus denen die Puchheimer in den kommenden Wochen ihren Favoriten wählen können. Zwei von ihnen erzählen die Geschichte von Gastarbeiterfamilien in Deutschland und der Suche der Nachfolgegenerationen nach einer eigenen Identität, für die sie erst einmal auf die Suche nach der eigenen Geschichte gehen müssen. Der dritte beobachtet einen Pfleger in der Psychiatrie, der langsam die Kontrolle über sein berufliches und privates Leben verliert - beides hat mit einer mysteriösen Patientin zu tun. Dem Phänomen der Stadtflucht widmet sich das vierte Buch, ohne dabei Klischees zu bedienen oder das Leben auf dem Land zu romantisieren.

"Ungefähre Tage" von Annika Domainko ist bei C.H. Beck erschienen und kostet 23 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Die Geschichte von zwei Verlorenen, die am denkbar ungünstigsten Ort aufeinandertreffen, erzählt Annika Domainko in ihrem Roman "Ungefähre Tage". Protagonist Grün, aus dessen Innenperspektive die Geschichte erzählt wird, ist verloren in seinem Arbeitsalltag und der monotonen Beziehung mit einer erfolgreicheren Frau. Seit fast 20 Jahren arbeitet er als Pfleger in einer psychiatrischen Einrichtung, als eine junge Patientin mit Wahnvorstellungen quasi wortwörtlich vor seine Füße fällt. Die Gespräche mit ihr werfen ihn in seine eigenen Traumata zurück, gleichzeitig fühlt er sich verstanden wie lange nicht. Und so löst sich die professionelle Pfleger-Patientin-Beziehung langsam auf und entwickelt sich in eine unheilvolle Richtung. Domainko gelingt mit ihrem Roman ein wortgewaltiges und zugleich feinfühliges Panorama von Halt und Haltlosigkeit, Machtverhältnissen und Machtmissbrauch, Grenzen und Grenzüberschreitungen. Fesselnd, berührend, klug und voller unerwarteter Wendungen entwirft sie das Psychogramm von zwei Menschen, die permanent auf der Grenze gesellschaftlicher Normen balancieren.

"Auf der Straße heißen wir anders" von Laura Cwiertnia ist bei Klett-Cotta erschienen und kostet 22 Euro. (Foto: Klett-Cotta)

Fast wie ein magisches Artefakt taucht der ominöse Goldarmreif mit dem schmutzigen Zettel, auf dem nicht mehr steht als ein unbekannter Name, im Leben von Karla auf. Es ist der Wunsch ihrer verstorbenen Großmutter, dass die Frau auf dem Zettel das Erbstück erhält. Und so bricht Karla auf nach Armenien, in die Heimat ihrer Familie. "Auf der Straße heißen wir anders" ist der Debütroman von Laura Cwiertnia, die 1987 als Tochter eines Armeniers und einer Deutschen geboren ist. Karla wächst im Bremer Stadtteil Vegesack auf, zwischen Hochhäusern, Armut, Abgrenzung, Ausgrenzung und der Hoffnung auf ein besseres Morgen. Über die Geschichte ihrer Familie weiß sie wenig. Mit feiner Beobachtungsgabe und ebenso feiner Sprache begleitet Cwiertnia ihre Protagonistin durch diese Welt. Der Besuch in Armenien wird für Karla zur Zeitreise. Sie lernt die Geschichte ihrer Familie kennen, lernt zu verstehen, was das alles mit ihr zu tun hat. "Auf der Straße heißen wir anders" ist ein herausragender Roman, der einer ganzen Generation von Gastarbeiterkindern und -enkeln eine eindrucksvolle Stimme gibt.

"Dschinns" von Fatma Aydemir ist bei Carl Hanser erschienen und kostet 24 Euro. (Foto: Hanser)

Nach drei Jahrzehnten Schufterei als Gastarbeiter in Deutschland hat es Hüseyin endlich geschafft: den Ruhestand will er in einer Eigentumswohnung in Istanbul genießen. Doch am Tag des Einzuges stirbt er an einem Herzinfarkt. Und so kommt die Familie nicht zur Wohnungsbesichtigung zusammen, sondern zur Beerdigung. Dort erzählt Fatma Aydemir in ihrem Roman "Dschinns" nun aus sechs komplett unterschiedlichen Perspektiven, verteilt über die Generationen, die Geschichte der Familie. Angesiedelt in den Neunzigerjahren, gibt sie einen Überblick über die Situation deutsch-türkischer Familien in der frisch wiedervereinigten Bundesrepublik. Dabei geht es nicht nur um fremdenfeindliche Pöbeleien, sondern auch um brennende Häuser. Es geht um den Sohn, der Gefühle für einen Freund entwickelt, um einen anderen, der schon früh auf die schiefe Bahn gerät. Um die Schwester, die als erstes Kind der Familie studieren kann und den Feminismus als Thema für sich entdeckt. "Dschinns" ist ein berührender Roman, der Menschen auf der Suche nach sich selbst zeigt - und nach einer Heimat in der neuen Heimat.

"In den Wäldern der Biber" von Franziska Fischer ist bei Dumont erschienen und kostet 22 Euro. (Foto: Dumont)

Als das Leben, das sich Alina mühevoll in der Stadt aufgebaut hat, zusammenbricht - sie trennt sich von ihrem Partner und verliert ihren Job - , entscheidet sich die junge Frau für einen Ausbruch. Sie erinnert sich an den Großvater in Brandenburg, zu dem sie seit fast 20 Jahren keinen Kontakt mehr hat. Und er, ganz Großvater, nimmt sie ohne große Fragen in seinem viel zu großen, renovierungsbedürftigen Haus am Waldrand auf. Dort gibt es keine überhöhten Erwartungen im Büro und aggressive Autofahrer auf der Straße, dafür Hühner, selbst gebackenes Brot und einen Biber, um den sich der Großvater kümmert. Langsam kehren nicht nur Alinas längst verblasste Erinnerungen an die Zeit dort zurück, sondern auch sie findet zu sich selbst. "In den Wäldern der Biber" von Franziska Fischer ist eine klassische, aber feinfühlige Selbstfindungsgeschichte über einen Menschen, der mit dem Lärm und den Reizen der Großstadt überfordert ist und sein Seelenteil im Rückzug in die Natur findet - ohne dabei aber bekannte Klischees zu bedienen oder etwas zu verklären. Ruhig, bildstark, sympathisch.

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