Fürstenfeldbruck:Familien dürfen bei Jugendhilfe mitreden

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Das Modellprojekt "Jugendhilfe vor Ort" in Puchheim dient künftig als Vorbild für den Landkreis. (Foto: Leonhard Simon)

Brauchen junge Menschen Unterstützung, so wollen Fachkräfte ihnen künftig keine Maßnahmen mehr überstülpen. Die Betroffenen sollen selbst Lösungsvorschläge anbieten.

Von Heike A. Batzer, Puchheim

Allzu oft sind es die Kinder, Jugendlichen, jungen Menschen, die ausbaden müssen, was in Familien nicht funktioniert. Das gilt auch dann, wenn sie Hilfe erhalten - beispielsweise von den Jugendämtern. An dieser Prämisse kranke das Jugendhilfesystem, sagt Andreas Kirchner, Professor für Wissenschaft und Theorie der Sozialen Arbeit an der Stiftungshochschule München. Dann erhalten die jungen Leute zwar von Fachleuten erarbeitete, professionelle Hilfemaßnahmen. Aber "was die Familien selbst möchten, hat früher keine Rolle gespielt", weiß Kreisjugendamtsleiter Dietmar König. Der Landkreis Fürstenfeldbruck stellt sein Hilfesystem nun landkreisweit um. Die Familien erhalten dabei mehr Mitsprache.

Ein dreijähriges Modellprojekt namens "Jugendhilfe vor Ort" in und mit der Stadt Puchheim hat es vorgemacht. Dafür sind sozialpädagogische Fachkräfte des Kreisjugendamts aus dem Landratsamt Fürstenfeldbruck in Büroräume in die Puchheimer Boschstraße umgezogen, wo sich auch das städtische Sozial- und Jugendamt befinden. Die Fachkräfte sind dadurch näher dran am Geschehen und können besseren Kontakt zu den Betroffenen, aber auch zu relevanten Netzwerkakteuren aufzubauen und Familien, die in bestimmen Lebens- oder Problemlagen Hilfe brauchen, an geeignete Stellen weitervermitteln. Das müssen nicht unbedingt professionelle Akteure im Jugendhilfebereich, sondern können auch Sportvereine, Kirchen oder ehrenamtliche Angebote sein.

Viele der betroffenen jungen Menschen wachsen "in einem schwierigen Umfeld auf, sind belastenden Situationen ausgesetzt oder drohen, von der sozialen Teilhabe abgehängt zu werden", sagt Puchheims Bürgermeister Norbert Seidl (SPD). Puchheim darf sich zwar "kinderfreundliche Kommune" nennen, "aber in Puchheim ist nicht das Schlaraffenland, sondern wir müssen Not und Bedarf sehen und darauf regieren", weiß auch der Bürgermeister. Den neuen Weg sei man deshalb gerne mitgegangen. Durch die neue Vor-Ort-Strategie erhalte man besseren Zugang zu den Jugendlichen und ihren Familien, lautet ein erstes Fazit von Kreisjugendamtsleiter König: "Jugendhilfe darf nicht an Barrieren scheitern, etwa dass Menschen schwer zu uns finden." Es geht darum, Hürden abzubauen und das Hilfeholen zu erleichtern. Wenn man die Mitarbeiter vor Ort kenne, falle es auch leichter, sich bei Problemen an sie zu wenden.

Eine Vertrauensperson aus dem Umfeld der Jugendlichen soll künftig an der Lösung mitarbeiten

Zentrale Änderung im neuen Fürstenfeldbrucker Jugendhilfekonzept ist ein sogenannter Familienrat: eine Art Familienkonferenz, bei der selbst gewählte Vertrauenspersonen aus dem Umfeld eines betroffenen Jugendlichen an der Lösung des Problems mitwirken. Das Konzept "nimmt die Eltern in die Pflicht", sagt Kirchner, der das Modellprojekt wissenschaftlich begleitet hat. Jugendamtsleiter König erklärt die Änderungen so: Haben sich Betroffene bislang an das Jugendamt gewandt, hätten die Fachleute dort ausgearbeitet, welche Unterstützung die Jugendlichen bekommen sollen, zum Beispiel eine sogenannte sozialpädagogische Familienhilfe. Doch die Betroffenen hätten sich darunter häufig nichts vorstellen können, und bisweilen hatte man sie auch nur mit Nachdruck von einer Maßnahme überzeugen können. Nicht immer funktionierte deshalb das Zusammenspiel von Fachkräften und Betroffenen. Schon vor geraumer Zeit hatte König darauf hingewiesen, dass Hilfemaßnahmen "zu einem hohen Prozentsatz nach relativ kurzer Zeit scheitern, nicht passen oder nicht gewünscht werden" und bis zu ein Viertel der ambulanten und stationären Jugendhilfemaßnahmen nach einem halben Jahr ohne Erfolg endeten. Die Familienräte führten indes dazu, "dass nur jene Hilfe zustande kommt, die auch von den Familien gewollt wird", sagt König jetzt. Man wolle keine Hilfe verordnen, sondern sie gemeinsam erarbeiten: "Wir müssen die Menschen, für die wir da sind, auf Augenhöhe sehen."

Kirchner würdigt in seiner Beurteilung des Projekts, dass "der Partizipationsgedanke ernst genommen und in die Organisationslogik eingebaut wird". Wegen der konsequenten Einsetzung von Familienräten könne die Neuausrichtung durchaus als "einzigartig" angesehen werden. Denn die gesetzlichen Regelungen sehen keine Pflicht zur Umstellung vor.

Anstoß, das Konzept zu ändern, kam im Kreisjugendamt aber auch von innen heraus. Der Fachkräftemangel und eine hohe Fluktuation wirkten sich negativ auf die Mitarbeiterzufriedenheit im Jugendamt aus, sagt König. Auch deshalb suchte man nach Änderungen.

Die Puchheimer Außenstelle, die auch Eichenau mitbetreut, soll nun zur dauerhaften Einrichtung werden. Und auf Landkreisgebiet soll es vier weitere Vor-Ort-Einheiten geben: für Olching/Gröbenzell, Germering, Fürstenfeldbruck und eine weitere für die übrigen 17 kleinen Gemeinden im Westen.

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