Kultur:"Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen"

Lesezeit: 3 min

Seit Jahrzehnten macht der 89-jährige Guido Zingerl auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Seit Jahrzehnten legt der Künstler Guido Zingerl den Finger in die immer gleichen gesellschaftlichen Wunden. Eine Ausstellung in der Kiener-Halle zeigt, warum seine Kunst heute notwendiger ist denn je.

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Es gibt von Gudio Zingerl eine Karikatur, in der er einen Zwangsarbeiter als Sisyphos malt, der, unter Blicken und Beschimpfungen eines betrunkenen Pöbels, trotz aller Anstrengung einfach nicht zu einem Ende kommt. Schaut man nun die aktuelle Ausstellung des 89-Jährigen in der Halle der Kiener-Stiftung an, kann man schwerlich anders, als Zingerl selbst als einen solchen Sisyphos zu sehen. Einen der sich seit Jahrzehnten an den immer gleichen, wiederkehrenden, nein, eher beständig wachsenden, gesellschaftlichen Problemen abarbeitet. Und das unter den Augen eines konservativen Publikums, das ihn bestenfalls als utopistischen Sozialromantiker belächelt, schlimmstenfalls als gefährlichen Kommunisten brandmarkt.

"Das kurze Gedächtnis der Menschheit" ist der treffende Titel dieser Ausstellung, in der 21 Werke Zingerls aus den vergangenen 60 Jahren zu sehen sind. Angelehnt ist der Name an das Gedicht "Das Gedächtnis der Menschheit" von Berthold Brecht, das mit den Zeilen:"Das Gedächtnis der Menschheit / für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. / Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer", beginnt. Ganz in diesem Sinne hat Zingerl Werke ausgewählt, mit denen er teils schon vor Jahrzehnten auf Probleme aufmerksam gemacht hat, die heute immer noch aktuell sind und die sich meist noch verschärft haben. Und genau das macht die Ausstellung so eindrucksvoll wie verstörend und lässt den Besucher verzweifelt zurück. Wüsste man nicht, wie alt die Arbeiten sind, man würde darauf tippen, dass sie erst vor wenigen Wochen entstanden sind.

Die zum Teil Jahrzehnte alten Zeichnungen und Karikaturen sind aktuell wie nie. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Die Fabel von Hase und Igel hat Zingerl im Jahr 1982 zu einer Karikatur inspiriert. Bei ihm wird das Igel-Paar durch zwei Männer ersetzt, anhand von Kleidung und Habitus klar als Vertreter des Kapitals identifizierbar, in den Händen halten sie Schilder mit der Aufschrift "Preis". Zwischen ihnen hetzt ein hagerer Mann hin und her, auf seinem Helm steht "Lohn". Löhne, die mit den stetig steigenden Preisen nicht mithalten können, vor 40 Jahren ein Thema, 2022 angesichts explodierender Preise und historisch hoher Inflation sozialer Sprengstoff.

"Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, / wie Leute, die schon hinter sich haben, / was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen", schreibt Brecht in seinem Gedicht, und Zingerl gibt dieser biedermeierlichen Apathie ein Gesicht. "Der Glückliche" nennt er seine Tuschezeichnung, auf der ein selig grinsender deutscher Michel mit Zipfelmütze und Schlafanzug und einem Buch in der Hand in seinem Garten sitzt und sich der drei Blumen erfreut, die auf der abgezäunten Wiese wachsen. So glücklich ist er über sein kleines Reich, dass er nicht mitbekommt, dass um ihn herum die Welt zerfällt, er sitzt auf dem letzten intakten Fleck, zwischen leeren Straßen, Ruinen, aus dem Boden ragenden Kabeln und einem großen Zahnrad, das sich durch das letzte Stück Natur frisst. 1996 ist das Bild entstanden.

Vier Zeichnungen widmen sich dem Revolutionsschriftsteller Georg Büchner. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Nur eine der gezeigten Arbeiten ist aktuell, die Karikatur "Freier Wohnungsmarkt". Zu sehen sind darauf eine Reihe von Hochhäusern, über denen eine Gruppe feister Gestalten thront, auch sie wieder unverkennbar als Vertreter des Kapitals. Vor einem der Häuser steht ein Makler, der zu einer langen Schlange von Wohnungssuchenden spricht. Derweil ziehen Familien mit ihren Kindern im Bollerwage, Rentner mit Rollator und Stock ihres Weges, sie versuchen es nicht einmal mehr. Andere haben unter einer Brücke Quartier bezogen. Beobachtet von den Blicken eines Apologeten des freien Wohnungsmarktes, den sein Transparent verkündet. Die Zeichnung ist Grundlage für einen Wettbewerb, den die Kiener-Stiftung im kommenden Jahr mit dem Graf-Rasso-Gymnasium organisiert und bei dem sich Schüler mit dem Thema beschäftigen sollen. Zum ersten Mal gab es diese Kooperation 2019 zum Thema "Tafel", auch damals hatte Zingerl mit einer Zeichnung die Grundlage geschaffen.

"Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde", appelliert Brecht in seinem Gedicht. Und genau das ist es, was die Ausstellung macht. Keine der Anklagen, die Zingerl künstlerisch formuliert, ist neu. Und gerade deshalb sind sie so dringend wie nie.

Ausstellung "Das kurze Gedächtnis der Menschheit" mit Arbeiten von Guido Zingerl, zu sehen Freitag, 27. Mai, von 16 bis 19 Uhr, Samstag, 28. Mai, von 10 bis 15 Uhr und Sonntag, 29. Mai, von 11 bis 15 Uhr in der Hans-Kiener-Halle, Münchner Straße 3, Fürstenfeldbruck. Vernissage am Sonntag von 11 Uhr an

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: