Gesundheit:Am Limit

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"Werden Sie nicht krank", rät der Personalratschef der Kreisklinik Fürstenfeldbruck, Holger Geißler. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Ein Seniorenheim wird zum Boardinghaus und in der Kreisklinik müssen Patienten unter Umständen in der Notaufnahme übernachten. Die steigende Arbeitsbelastung von Pflegekräften zeigt dramatische Folgen

Von Ariane Lindenbach, Fürstenfeldbruck

Boardinghaus statt Seniorenheim: In Gröbenzell wird die private Einrichtung am S-Bahnhof bald umgewandelt. Denn die Betreiber finden nicht mehr genug Pflegekräfte. In der Kreisklinik stehen seit Jahren aus dem gleichen Grund etwa 30 Betten leer. Wartezeiten in der Notaufnahme von bis zu sieben Stunden in weniger dringenden Fällen sind inzwischen Normalität. Und unlängst, an einem heißen Wochenende, war das Krankenhaus so voll, dass ein paar Patienten in der Notaufnahme nächtigen mussten. Der so oft zitierte Pflegenotstand tritt im Landkreis immer deutlicher zutage. Doch nach der Einschätzung von Holger Geißler, langjähriger Personalratsvorsitzender in Fürstenfeldbruck, wird die Situation in den nächsten Jahren noch schlimmer. Zumal der bayerische Verfassungsgerichtshof am Dienstag das geplante Volksbegehren gegen den Pflegenotstand gestoppt hat.

"Ich kann Ihnen nur raten, werden Sie nicht krank", betont Geißler. "Der Zug hat Höchstgeschwindigkeit und die Wand ist nicht mehr weit entfernt", skizziert er die Lage. Seit Jahren, im Grunde Jahrzehnten schon, steigt der Arbeitsdruck auf Pflegekräfte. Dazu kommt eine relativ geringe Bezahlung. Das bleibt nicht ohne Folgen. "Vor zehn, 15 Jahren hat man eigentlich schon erkennen müssen, dass ein Pflegepersonalmangel auf uns zukommt", unterstreicht der Mediziner. Doch die Politik habe wenig unternommen, um die Situation zu verbessern. "Man hat Reformen gemacht, aber die haben überhaupt nicht gegriffen."

Stattdessen gab es vor sechs Jahren noch einmal eine deutliche Verschärfung. "Es ist losgegangen im Jahr 2013 mit einem erhöhten Arbeitsdruck an den Kliniken." Das betraf Pflegekräfte und Mediziner gleichermaßen. Die stressigeren Arbeitsbedingungen führten zunächst an den Akutkliniken, zu denen auch die Kreisklinik zählt, zur Personalflucht. Akutkliniken versorgen viele Notfälle, die Arbeit dort ist schwer kalkulierbar, es gibt oft Überstunden und Nachtschichten. Also wanderten zunächst viele Pflegekräfte und Mediziner zu Rehabilitations- oder Tageskliniken ab; dort sind die Arbeitszeiten deutlich besser überschaubar.

Hinzu kommt, dass die Mitarbeiter, die nicht den Arbeitsplatz gewechselt haben, in großem Umfang ihre Arbeitszeiten reduziert haben, von 100 auf 75 oder nur 50 Prozent. Und Geißler und seine Kollegen haben in den vergangenen Jahren noch etwas anderes beobachtet: "Die jungen Fachkräfte hören nach drei, vier Jahren auf. Die können nicht mehr." Viele seien ausgebrannt und von der Realität bitter enttäuscht.

Diese gut ausgebildeten Arbeitskräfte kehren dem Pflegebereich meist für immer den Rücken. Wertvolle, gut ausgebildete Mitarbeiter gehen so verloren. Und das hat einen Grund. Wie der Personalratsvorsitzende betont, ist der Pflegeberuf aus arbeitsmedizinischer Sicht körperlich ähnlich belastend wie Arbeiten auf einer Baustelle. Doch Bauarbeiter haben keine psychische Belastung durch ihre Arbeit - Menschen, die andere Menschen pflegen, sehr häufig schon. Zumal wenn die Rahmenbedingungen eine gute, menschenwürdige Pflege schon gar nicht mehr zulassen.

Weitere Faktoren werden die Situation nach Geißlers Einschätzung verschärfen: In den nächsten Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Gleichzeitig wird die Bevölkerung immer älter. Und damit oft auch kränker. Die Region München boomt zudem enorm. Mit Blick auf das in Freiham entstehende neue Viertel sagt Geißler: "Es kann uns passieren, dass das Krankenhaus Pasing nur noch Münchner aufnimmt." Außerdem funktioniert das Abwerben in die Landeshauptstadt auch sehr gut. 2500 bis 3000 Euro zahlen manche Münchner Kliniken für die erfolgreiche Vermittlung einer Pflegekraft. Damit die sich bei ihrer Entscheidung leichter tun, zahlt München außerdem die doppelte Ballungsraumzulage. In Fürstenfeldbruck gibt es gar keine mehr.

"Bei den Ärzten ist es genauso schlimm", sagt Geißler. Hatte ein Chefarzt im Krankenhaus noch vor 15 Jahren 200 Initiativbewerbungen auf dem Tisch liegen, "müssen wir heute Stellen ausschreiben". Ähnlich gering ist das Interesse, als Nachfolger eine Arztpraxis zu übernehmen. Für den Landkreis gibt es demnach einige Angebote, aber keine Bewerber. "Auf dem Land will eigentlich keiner arbeiten", erklärt der Personalratsvorsitzende. "Die Arbeitskonditionen müssen sich deutlich verbessern", fordert der Mediziner. Nur so könne die Lage sich entspannen - für Ärzte und Pflegepersonal gleichermaßen. Dazu müsste nicht nur der Lohn deutlich steigen. Auch die Bedingungen müssten sich so verändern, dass die Arbeitenden ihre Hauptmotivation, die Freude an der Hilfe und Fürsorge für Menschen, beibehalten.

© SZ vom 18.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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