Germering:"Viele Kinder haben sich schwer getan, Anweisungen entgegenzunehmen"

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Damit es den Schülern leichter fällt, über ihre Sorgen zu sprechen, hat Jugendsozialarbeiterin Anja Sujbert ihr Büro ganz wohnlich eingerichtet. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Die Corona-Zeit verstärkt die Probleme, die es ohnehin an Bildungseinrichtungen wie der Wittelsbacher Mittelschule in Germering gibt. Jugendsozialarbeiter werden deshalb als Ansprechpartner immer wichtiger.

Von Heike A. Batzer, Germering

Der Lockdown. Kinder, die nicht in die Schule gehen dürfen, sondern zu Hause bleiben müssen. Homeschooling mit Distanzunterricht - theoretisch. Praktisch verschwinden manche einfach. Es sind jene, die daheim sich selbst überlassen gewesen seien, sagt Walter Braun. Er ist Schulleiter an der Wittelsbacher Mittelschule in Germering und hat erlebt, was zwei Pandemiejahre mit den Kindern gemacht haben. Als sie wieder in den Präsenzunterricht zurückgekehrt seien, hätten sich viele Schüler schwer getan, Anweisungen entgegenzunehmen, weil sie es zuletzt gewohnt waren, dass "zu Hause niemand was angeschafft hat. Das konnte ja keiner überwachen." Auch das Handy als Kommunikationsmittel sei in dieser Zeit deutlich selbstverständlicher geworden. Braun sagt: "Für die Schüler war es das Fenster zur Welt." Mit der Folge, dass sie sich nun schwer tun, es nicht auch im Unterricht weiter zu verwenden.

Die Corona-Zeit belastet die jungen Menschen. Doch es ist nicht nur Corona. An der Wittelsbacher Mittelschule steigt die Notwendigkeit, Schüler jenseits der Wissensvermittlung zu unterstützen, seit Jahren an. Die Zahl der Schüler, die an gravierenden Verhaltensauffälligkeiten, sozialer Verwahrlosung oder erziehungsschwachen Eltern leiden, würde stetig zunehmen, weiß das Kreisjugendamt, das in Kontakt mit der Schule steht. Fast die Hälfte der Schüler - 45 Prozent - zählen dort zu den leistungsschwachen Schülern. Ein Viertel der Schüler galt schon vor der Pandemie als belastet, der Wert erhöhte sich zuletzt auf 35 Prozent. Der Anteil der Mittelschüler mit Schwierigkeiten unterschiedlichster Art ist "deutlich größer als noch vor 20 Jahren", weiß auch Walter Braun. Das hat auch damit zu tun, dass seit Jahren weniger Schüler in der Mittelschule ankommen: Nur ein Viertel der Viertklässler setzt dort seine schulische Laufbahn fort, drei Viertel treten im Landkreis auf Gymnasium oder Realschule über. Um die Probleme der Schüler kümmern sich deshalb an immer mehr Schulen Jugendsozialarbeiter. Die Stelle an der Wittelsbacher Schule wurde gerade erst vom zuständigen Kreistag Fürstenfeldbruck auf 34,45 Wochenstunden aufgestockt. Anita Sujbert ist jetzt als Vollzeitkraft an der Wittelsbacher Schule tätig.

Die 43-Jährige ist seit vier Jahren an der Schule. Alle kennen sie. Viele brauchen sie. Als sie zuletzt vier Tage krank war und danach zurückkam, habe es "ständig an meiner Tür geklopft", erzählt sie: "Ein Schüler nach dem anderen ist gekommen. Das ist ein schönes Gefühl." Einerseits, weil sie weiß, dass sie eine wichtige Vertrauensperson für die Schüler ist. Andererseits werden damit genau jene Probleme sichtbar, deren Linderung Sujberts Aufgabe ist: sich die Sorgen der Schüler anhören, nach Verbesserungs- und Lösungsvorschlägen suchen. "Niedrigschwelliger kann man auf Kinder und Jugendliche eigentlich nicht zugehen", sagt Kreisjugendamtsleiter Dietmar König. Soll heißen: Die Anwesenheit von Jugendsozialarbeitern erleichtert es, sich Hilfe zu holen.

Jugendsozialarbeiter gibt es an fast allen Schulen im Landkreis

Was in den Siebzigerjahren als Hilfeleistung an sogenannten "Brennpunktschulen" begann, ist inzwischen in allen Schulformen etabliert. Vor mehr als 30 Jahren machte just der Schülertreff an der damaligen Wittelsbacher Hauptschule in Germering erstmals ein solches Angebot. Die Anwesenheit von Jugendsozialarbeitern an Schulen, die im Amtsdeutsch abgekürzt Jas-Kräfte genannt werden, wird im Landkreis seit Jahren aktiv vorangetrieben. Mit Ausnahme der sehr kleinen Mittelschulen in Emmering und Eichenau gibt es Jas-Kräfte an allen Mittelschulen im Landkreis, an immer mehr Grundschulen, an den beiden sonderpädagogischen Förderzentren, an Berufsschule, Fach- und Berufsoberschule sowie an allen Gymnasien und Realschulen. Neu hinzu kommen neben der Stundenaufstockung an der Wittelsbacher Schule in diesem Jahr die Grundschulen in Eichenau und Mammendorf sowie die Grundschule an der Kerschensteiner Schule in Germering. Die Jugendsozialarbeiter auch an Grundschulen einzusetzen, ist einfacher geworden, seit die Schulen dafür nicht mehr einen 20-prozentigen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund nachweisen müssen.

Die Wittelsbacher Mittelschule in Germering wird seit einigen Jahren saniert. 2023 soll der Campus fertig sein. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Auch in Germering können die Schüler spontan ohne Termin und ohne ihre Eltern in Kenntnis zu setzen, zu Anita Sujbert kommen. Über das, was in ihrem extra wohnlich eingerichteten Büro gesprochen wird, besteht Schweigepflicht. Keinem Lehrer würden sich Schüler derart anvertrauen. Lehrkräfte sind Autoritätspersonen und fürs Unterrichten da. "Sie können nicht alles sein", sagt Anita Sujbert über die unterrichtenden Kollegen. Sie selbst ist im Schulbetrieb als Angestellte der Arbeiterwohlfahrt eine externe Mitarbeiterin.

In Zeiten geschlossener Schulen haben die Kinder verlernt, wie man Konflikte löst

Sujbert ist immer für die Schüler da. Manche Dinge kann sie schlichten helfen, wie kleinere Streitigkeiten unter Schülern. So hätten manche in Zeiten der Schulschließungen verlernt, wie sich Konflikte lösen lassen, erzählt sie. Für die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen sei diese Zeit schwer auszuhalten gewesen: "Als wären sie in eine andere Welt gefallen." Aber auch schon vor der Corona-Zeit brachten Schüler familiäre Konflikte und Sorgen von zu Hause mit: Vernachlässigung bis hin zu Gewalt, der Tod eines Angehörigen oder Trennung und Scheidung werfen viele kindliche Seelen aus der Bahn. Bei vielen betroffenen Kindern ist das Geld im Elternhaus knapp. Bisweilen haben die Kinder Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst, haben ein gestörtes Selbstwertgefühl. "Wie sollen sie da noch was im Unterricht mitkriegen?", fragt deshalb Schulleiter Braun. Jugendamtsleiter König hat zudem gerade in der Corona-Zeit eine starke Verunsicherung der Jugendlichen ausgemacht, "teilweise irrationale Ängste, aber auch konkrete Ängste, die in Zusammenhang mit dem Virus stehen". Etwa die Angst, in die Schule zu gehen und sich dort mit dem Virus zu infizieren. Auch dass nicht mehr galt, was bis dahin unumstößlich war. "Seitdem gab es ständig neue Regeln, wie Schule stattzufinden hat. Das hat für Unklarheiten gesorgt", sagt König.

Schüler bei Problemen auch an externe Kontaktstellen zu vermitteln, ist auch Aufgabe von Jugendsozialarbeitern wie Anita Sujbert. Die Eltern kennen sich oft nicht aus, wo es Hilfen gibt und wie man diese beantragen kann. Sie seien dann "unglaublich dankbar, wenn ihnen weitergeholfen wird", sagt Sujbert. Sie selbst war für die Schüler stets auch während der Homeschooling-Phase erreichbar. Das war vor allem auch für die Abschlussklassen an der Mittelschule wichtig, die eine berufliche Perspektive brauchen, in der Pandemie aber oft keine Praktikumsplätze fanden. Manchmal war es dabei zunächst einmal notwendig, die Ängste vor der Videokonferenz zu nehmen. Es habe manche Schüler Überwindung gekostet, sich vor der Computerkamera zu zeigen und zu sprechen, erzählt Anita Sujbert. Sie habe die Schüler dann ermuntert und gesagt: "Traue dich einfach zu reden!"

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