Fesselnde Lektüre:Resozialisierung durch Lesen

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Die Jugendgerichtshilfe beschreitet neue Wege. Statt einen Arrest abzusitzen, werden Straftäter zur Lektüre eines Buches verpflichtet.

Ariane Lindenbach

Dass Lesen für manchen eine Strafe ist, ist nicht neu. Dass sich die Fachleute im Bereich des Jugendstrafrechts und der Sozialpädagogik dieser Abneigung nun bedienen und sie in etwas Positives umwandeln, hingegen schon. Das neue Projekt im Raum München heißt Kontext und wird seit 2011 in Jugendstrafanstalten umgesetzt, seit ein paar Monaten in einer Erprobungsphase auch für andere jugendliche Straftäter. Im Landkreis Fürstenfeldbruck wurde eine solche Weisung seit Mai bereits neun Mal verhängt.

Kontext geht auf ein ähnliches Projekt namens "Dresdner Bücherkanon" zurück, das dort seit 2007 mit überzeugenden Ergebnissen läuft. Die Idee dahinter ist es, die jugendlichen oder heranwachsenden Straftäter nicht einfach nur zu bestrafen, indem man ihnen Sozialstunden aufbrummt oder sie in Arrest steckt und so ihren Frust auf die Gesellschaft möglicherweise noch verstärkt; sondern man möchte durch das begleitete Lesen, bei dem über den Inhalt gesprochen und dieser reflektiert wird, bei den jungen Menschen einen inneren Prozess auslösen, sie zum Nach- und Umdenken bringen und dadurch letztlich auch eine Verhaltensänderung erreichen. Frei wählen können die zu Bestrafenden ihre Lektüre allerdings nicht: Es gibt eine Liste von mehr als 70 Büchern zu verschiedenen Themenbereichen wie Gewalt, Mobbing, Schule oder Gefühle, Freundschaft, Familie sowie Aggression, Konflikt, Gewalt, Kriminalität und Alkohol, Drogen, Prostitution und noch ein paar anderen mehr.

An der Hochschule München haben Studenten des Bachelorstudienganges Soziale Arbeit 2010 unter der Leitung der Juristin und Sozialpädagogin Caroline Steindorff-Classen begonnen, das Konzept für Kontext zu entwickeln. Seit etwa einem Jahr wird es in freiwilligen Lesegruppen in Jugendstrafanstalten umgesetzt, seit Mai erprobt es die Jugendgerichtshilfe Fürstenfeldbruck auch hier im Landkreis. Die Bedingungen sind klar: Die Leseweisung kann von der Staatsanwaltschaft (als Voraussetzung für eine Verfahrenseinstellung) oder einem Jugendrichter auferlegt werden. Wird sie anstelle von gemeinnütziger Arbeit verhängt, entsprechen zwei Lesestunden einer Sozialstunde. Bei einem Erstgespräch mit zwei entsprechend geschulten Studenten wird die Lesefähigkeit des Jugendlichen ebenso ermittelt wie dessen Lebenssituation und die Straftat.

Gemeinsam legt man dann fest, welches Buch gelesen werden soll. Während der Lektüre finden drei bis sechs weitere Treffen innerhalb eines engen zeitlichen Rahmens statt, bei denen das Gelesene besprochen und auf das eigene Leben übertragen wird. Ist das Buch gelesen, entscheidet der Jugendliche mit seinem Mentor, ob er darüber ein schriftliches Resümee verfassen oder die Lektüre künstlerisch-kreativ verarbeiten möchte, etwa indem er einen Comic gestaltet oder einen Hip-Hop-Song schreibt. Hierfür gibt es entsprechende Angebote im Rahmen von Kontext. Den Landkreis kostet das Projekt nichts, da es sich über Spenden finanziert. Die mitwirkenden Studenten verlangen ohnehin keinen Lohn, sie sind froh, dass sie auf diese Weise Praxiserfahrungen sammeln können.

Johann Steigmayer, der bis vor kurzem auch als Jugendrichter am Amtsgericht in Fürstenfeldbruck tätig war, kann sich gut vorstellen, dass das Projekt bei den Jugendlichen einen Sinneswandel bewirkt. Er erinnert sich an seine eigene Schulzeit, als ihm das Dritte Reich in Form von bloßen Zahlen und Fakten kaum näher gebracht werden konnte. Erst die Lektüre von Oskar Maria Grafs Büchern, in denen die Auswirkungen auf die Menschen geschildert wurden, habe ihm vor Augen geführt, wie schrecklich die Zeit des Hitler-Regimes gewesen sein muss.

© SZ vom 18.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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