Lesenswert:Ein Buch, das ins Herz geht

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"Brüderchen" von Clara Dupont-Monod, Piper Verlag, 22 Euro. (Foto: Nicola Bräunling)

Für Nicola Bräunling ist der Roman "Brüderchen" von Clara Dupont-Monod ein absoluter Favorit des Literatur-Frühjahrs.

Von Nicola Bräunling

In jeder Familie hat jedes Mitglied seine Rolle und den entsprechenden Platz. Aber wie sehr muss man ihn suchen, sich hineinfinden und alle anderen mit im Blick haben, wenn die Familienstruktur eine andere ist als bei anderen. Wie viel gibt man von sich und seinen Unsicherheiten und Verletzungen preis? Was behält man für sich, um den Rest der Familie zu schützen?

Unter meinen Freundinnen und Freunden gibt es immer wieder welche, die ein Geschwisterkind haben, das anders ist als andere. Sei es durch psychische Beeinträchtigung, sei es durch körperliche Behinderung. Meistens erfahre ich erst relativ spät davon. Es scheint schwierig zu sein, über diese besondere Familiensituation zu sprechen. Nach und nach merke ich, wie sehr es das Leben aller beeinflusst. Die Schwestern und Brüder fühlen sich ein Leben lang verantwortlich und vielleicht sogar in der Schuld. Manche engagieren sich gerne und viel, für einige ist es eine arge Belastung.

In "Brüderchen" schreibt Clara Dupont-Monod über eine französische Familie, in die als drittes Kind ein kleiner Junge geboren wird. Das Baby, das in einem Dorf in den Cevennen zur Welt kommt, ist blind und kann sich nicht bewegen. Es fehlen Botenstoffe im Gehirn. Die Geschwister gehen komplett unterschiedlich mit dieser Situation um. Der große Bruder hat eine sehr enge Bindung zu dem Kind, ist erfüllt von Zuneigung und Verantwortung und achtet in jeder Sekunde auf die Bedürfnisse und die Sicherheit des Kindes. Die Schwester schwankt zwischen Abneigung, Eifersucht, Scham und dem Gefühl, die Familie retten zu müssen. Der Nachgeborene schließlich muss sich in einer Rolle zurechtfinden, die ihn vor viele Unbekannte stellt. Alle drei sind enorm starke Persönlichkeiten, die ihre Situation klarsichtig reflektieren und bewusst ihren Weg gehen. Aber auf die ein oder andere Weise hadern sie doch immer wieder mit dem Schicksal.

All das beschreibt Clara Dupont-Monod in einer wundervollen Sprache, mit unglaublicher Empathie und auf eine stille und ruhige Art, die direkt ins Herz geht. Es ist fast schon Poesie. Ein berührendes, ein wunderbares kleines Buch, das ich sehr gerne allen verkaufen möchte - egal, ob die Thematik eine wie auch immer persönlich erlebte ist.

Ich habe mit "Brüderchen" eine wahre Perle gefunden und erkläre das Buch - obwohl ich diese Saison schon sehr viele schöne Bücher gelesen habe - zu einem meiner klaren Frühjahrs-Favoriten. Zu Recht hat die Autorin für "Brüderchen" den Prix Goncourt des Lycéens 2021 verliehen bekommen.

Nicola Bräunling ist Inhaberin der Buchhandlung Bräunling in Puchheim. Regelmäßig stellt sie im Wechsel mit Katrin Schmidt und Helen Hoff von der Buchhandlung Lesezeichen in Germering ihr aktuelles Lieblingsbuch vor.

Der Laden von Nicola Bräunling ist als "Bayerns Buchhandlung des Jahres 2021" ausgezeichnet worden. (Foto: Leonhard Simon)
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