SZ-Adventskalender:Nur die Spitze des Eisbergs

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Das Freisinger Jugendamt musste sich 2018 um 250 vernachlässigte Kinder kümmern

Von Alexandra Vettori, Freising

Am 20. November 1989 ist die internationale Kinderrechtskonvention von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet worden, in Kraft trat sie am 2. September 1990. Das Übereinkommen ist das wichtigste internationale Menschenrechtsinstrumentarium für Kinder und gehört zu den neun internationalen Menschenrechtsverträgen. Es sieht neben dem Recht auf freie Meinungsäußerung auch Gedanken- und Religionsfreiheit und ein Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit, Bildung, auf Ruhe, Freizeit, Spiel und Schutz vor Gewalt vor. Dazu zählen nur körperliche, sondern auch seelische Gewalt, Ausbeutung, Verwahrlosung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch.

So weit die Theorie. Dass weltweit Millionen Kinder dennoch unter Armut, Krieg und Gewalt leiden, ist traurige Realität. Was allerdings oft vergessen wird, ist die Tatsache, dass auch im reichen Deutschland die Kinderrechtskonvention längst nicht so eingehalten werden kann, wie es der Fall sein sollte. Allein im Landkreis Freising mit seinen gut 179 000 Einwohnern musste sich das zuständige Jugendamt im Vorjahr um insgesamt 250 Kinder kümmern, deren Grundrechte nicht gewahrt werden konnten. Deshalb nicht, weil ihre Eltern aus verschiedensten Gründen nicht mehr in der Lage waren, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern. Und diese Fälle, da ist sich die Freisinger Jugendamtsleiterin Arabella Gittler-Reichel sicher, ist nur die Spitze des Eisbergs. "Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher", ist sie überzeugt. Die Benachteiligungen von Kindern aufgrund der Überlastung der Eltern machten immerhin 70 Prozent aller laufenden Fälle in der Jugendhilfe aus.

Die Gründe dafür kennt Arabella Gittler-Reichel aus ihrer täglichen Arbeit: "Manchmal sind es psychische oder körperliche Erkrankungen eines Elternteils, oft belastende Lebenssituationen, Geldsorgen wegen Trennung oder Arbeitslosigkeit." Manchmal spielt auch Gewalt eine traurige Rolle. Seit fünf Jahren leitet Arabella Gittler-Reichel das Freisinger Jugendamt, davor war sie 20 Jahre lang in der Bezirkssozialarbeit tätig.

Dass die Zahlen insgesamt steigen, kann sie nicht bestätigen. "Aber die Fälle sind komplexer geworden. Es kommen mehr Schwierigkeiten zusammen, mehr Überlastungssituationen, und dann oft noch Wohnungsnot. Die Folge ist, dass die Eltern nicht mehr den Fokus auf die Kinder richten können", berichtet sie.

Auffällig wird das meist in Kindergärten und Schulen, durch mangelnde Hygiene, ständig fehlendes Pausenbrot oder dass die Eltern auch auf Einladungen hin keine Zeit für Gespräche mit den Pädagogen haben. Oft sind es auch die Schulsozialarbeiter, die darauf aufmerksam werden, dass etwas nicht stimmen könnte, manchmal suchen Kinder und Jugendliche selbst Rat oder sie zeigen in den Tagesstätten auffälliges Verhalten.

Die Palette an Hilfsangeboten für in Not geratene Familien ist groß, doch das Hauptproblem für Behörden und Organisationen ist, an die Bedürftigen heranzukommen. Streetworker und Jugendsozialarbeiter leisten da wertvolle Arbeit. Denn viele Menschen wissen gar nicht, wie viele Hilfsmöglichkeiten es gibt, wieder anderen fällt bei Erwähnung des Jugendamts nur das Instrument der Kindsentnahme aus den Familien ein. Das freilich darf nur das allerletzte Mittel sein, zu dem dann gegriffen wird, wenn die Kinder akut gefährdet sind. "Deshalb ist es so wichtig, früh präventiv tätig zu werden", weiß Arabella Gittler-Reichel. Sie hofft, dass es künftig mehr niederschwellige Angebote geben wird, etwa Familienstützpunkte. Dort könnte auch das zweite große Problem besser angepackt werden. Denn viele bedürftige Familien sind mit den Anträgen und Regularien des Sozialsystems überfordert. "Da gibt es große Hindernisse und deshalb braucht es eine Begleitung", so die Leiterin des Jugendamtes.

Auch der "Adventskalender für gute Werke" der Süddeutschen Zeitung unterstützt Familien, die unverschuldet in Not geraten sind.

© SZ vom 30.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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