SZ-Adventskalender:Auf dem Weg

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Vier geistig behinderte Menschen lernen, ein selbständiges Leben zu führen. Für die Einrichtung ihrer WG fehlt Geld

Von Gudrun Regelein, Freising/Marzling

"Hier regiert der FC Bayern" steht auf dem Zettel, den Wolfgang an seine Zimmertür geheftet hat. Auch innen schmückt ein riesiges Poster mit sämtlichen Bayern-Spielern die Wand. Wolfgang ist großer Fan der Bayern, er trägt ein Trikot der Mannschaft. Der Besucherin zeigt er stolz ein Handyfoto, auf dem er mit Franck Ribéry zu sehen ist. Auf den ersten Blick ist der Anfang 30-Jährige ein ganz normaler junger Mann, der gemeinsam mit Sara, Lukas und Florian in einer Wohngemeinschaft lebt. Aber Wolfgang und seine Mitbewohner sind geistig behindert.

In einer Trainingswohngruppe lernen Menschen mit geistiger Behinderung, ein ganz normales Leben zu führen. (Foto: Marco Einfeldt)

Dennoch leben die vier jungen Menschen mit ihren Betreuern in Marzling in einer ganz normalen Wohnsiedlung. Hier sollen sie in einer sogenannten Trainingswohngruppe lernen, ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen - trotz ihrer Behinderung. "Ziel ist, dass sie in zwei, maximal in fünf Jahren ambulant betreut leben können", sagt Franz Kratzer, Einrichtungsleiter für betreutes Wohnen und ambulant unterstütztes Wohnen der Lebenshilfe Freising.

In der WG wird ein ganz normaler Alltag gelebt: Tagsüber arbeiten die Bewohner in der Lebenshilfe-Werkstatt, am späten Nachmittag kommen sie zurück. Dann wird sich erst einmal gemeinsam um den großen Holztisch in der Küche gesetzt und vom Tag erzählt. Danach wird gemeinsam gekocht, geputzt, die Wäsche gemacht - Fernsehen geschaut oder Play-Station gespielt. An diesem Abend steht Kürbissuppe auf dem Speiseplan, danach will die Gruppe noch Uno spielen.

Mit der WG sollen die Bewohner möglichst schnell in die Gesellschaft eingegliedert werden, sagt Kratzer. "Sie sind auf dem Weg dorthin." Kleine Besorgungen erledigen die Vier im Ort, gehen beispielsweise beim Bäcker frische Semmeln holen. Erste Kontakte zu den Nachbarn wurden schon geknüpft, die werden auch zu dem geplanten Einweihungsfest, einem Grillfest im Frühling, eingeladen. Und dafür haben die Vier noch einen ganz großen Wunsch, nämlich einen Grill, "so einen wie in Amerika", sagt Lukas - und Liegestühle für den Garten wären schön. Selber können sie sich das nämlich nicht leisten. Zwar sei die Finanzierung des betreuten Wohnens gesichert, berichtet Kratzer. Aber die Pauschale für die Einrichtung beispielsweise sei äußerst dürftig. Da alle in der Werkstatt für behinderte Menschen arbeiteten, verdienten auch alle Geld. "Das ist aber nicht viel", sagt er. Ansparen könne sich davon niemand etwas. Deshalb werde das Haus, in dem die Vier seit Oktober gemeinsam leben, nur nach und nach eingerichtet. Auch die Fahrdienste und die Begleitpersonen, die notwendig sind, um beispielsweise einmal ein Konzert zu besuchen, müssen selber bezahlt werden. "Die gewünschte Inklusion bedeutet zwar die Teilhabe am Leben, an der Gesellschaft - aber häufig scheitert das alleine an der Finanzierung", sagt Kratzer. "Die Grundversorgung ist zwar gesichert, aber wir wollen unseren Klienten mehr bieten." Eigentlich, so sagt Michael Schwaiger, Geschäftsführer der Lebenshilfe Freising, sollten alle behinderten Menschen so wie die Bewohner der Marzlinger WG entscheiden können, wo und wie sie leben wollen. Mit dem neuen Bundesteilhabegesetz werde das aber wohl noch schwieriger werden: Nichttätige behinderte Menschen nämlich fallen dann auf Sozialhilfeniveau - dem neuen Kostenträger für den sogenannten existenziellen Bereich aber könnten die ambulanten Wohnformen zu teuer sein, befürchtet Schwaiger. "Das könnte bedeuten, dass behinderte Menschen aus den ambulanten wieder in die stationären Settings zurückkehren müssen - oder diese gar nicht erst verlassen können." Die Bewohner der Marzlinger WG zumindest fühlen sich dort sehr wohl. Ob sie zurückwollen? "Nö, hier ist es besser", antwortet Wolfgang. In der WG laufe es sehr gut, findet auch Kratzer. "In dieser Harmonie habe ich das noch nicht erlebt."

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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