Steigende Zahl von Hartz-IV-Fällen:Die Krise trifft den Münchner "Speckgürtel"

Lesezeit: 2 min

Der zivile Flugverkehr am Flughafen München wird zumindest indirekt von dem Nato-Manöver im Juni betroffen sein. Das steht fest. (Foto: Marco Einfeldt)

Nirgends in Deutschland findet man derzeit einen höheren Anteil neuer Hartz-IV-Fälle als im Landkreis Freising. Ein Grund dafür ist auch, dass der Jobmotor Flughafen nicht mehr rund läuft.

Von Alexandra Vettori, Freising

Es ist ein ungewohnter Spitzenplatz für den Landkreis Freising, immerhin einer, den er sich mit zwei Nachbarlandkreisen teilt. Sonst stets ganz vorne mit den niedrigsten Arbeitslosenzahlen, gibt es derzeit nirgends in Deutschland einen höheren Anteil an Menschen, die neu auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind, als im nördlichen "Speckgürtel" von München. Im Vergleich zum Vorjahr, zeigt der Freisinger Job Center-Chef Bernhard Reiml auf, ist die Zahl der Arbeitslosengeld II-Bezieher um ein Drittel gestiegen.

ALG II, das ist nicht mehr Arbeitslosengeld I, sondern bedeutet staatliche Grundsicherung, Miete, Heizung. "Seit Beginn der Corona-Krise sind die Antragszahlen durch die Decke gegangen, um bis zu 108 Prozent", berichtet Reiml im Gespräch über Hintergründe der Entwicklung. Und gleich zu Beginn zeigt er Optimismus, die Steigerung wird schwächer, so, wie auch die allgemeinen Arbeitslosenraten sinken.

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Die aktuellsten Zahlen sind vom Mai, da zählte die Freisinger Agentur für Arbeit in ihrem Bereich, den Landkreisen Dachau, Freising, Erding und Ebersberg, 2852 ALG II-Empfänger. Im April waren es 2839, im März 2706. Doch die Kurve nach oben wird flacher, vergleicht man sie mit Mai 2020, als es ein Plus von 11,1 Prozent war, oder mit dem Vor-Corona-März 2020, was eine satte 36,5 Prozent Steigerung ergibt.

Natürlich fällt der erste Blick bei der Ursachensuche auf den Flughafen, den Jobmotor, der seine wirtschaftlichen Bande auch mit dem Umland geflochten hat. Mit dem Beinahe-Stillstand auf den Rollfeldern gehen nicht nur geringfügig beschäftigte Mitarbeiter in die Knie, die kein Recht auf ALG II-Leistungen haben. Auch den Geschäftspartnern des Flughafens, von der Reinigungsfirma bis zum Kartoffel-Lieferanten, sind die Aufträge weggebrochen. "Doch warum ist es dann in Frankfurt oder Berlin nicht so massiv?", fragt Bernhard Reiml.

Vor allem Branchen wie Gastronomie, Handel und Leiharbeitsfirmen leiden an der Corona-Krise

Die Branchen, aus denen die Menschen kommen, die in Hartz IV gerutscht sind, überraschen dagegen nicht: Gastronomie, Handel, Arbeitnehmer-Überlassung, also Leiharbeitsfirmen. Von Flughafen-München-Gesellschaft und Lufthansa kommen sie in der Regel nicht, deren Personal befindet sich zu großen Teilen noch immer in Kurzarbeit.

Bernhard Reiml vermutet die Ursache für die Zunahme der Bedürftigen im Münchner Norden "in ganz vielen kleinen Bausteinen". Dazu gehört, dass bis Jahresende die Angemessenheitsgrenzen bei Wohnungen nicht gelten. Das heißt, dass Menschen, die ALG II beziehen, auch in größeren Wohnungen, als in den Richtlinien vorgesehen, wohnen dürfen, und der Staat die Miete trotzdem bezahlt. Damit wolle man Wohnungslosigkeit vorbeugen, sagt Reiml. Er vermutet, dass das wohl auch dazu geführt hat, dass die Steigerungsraten im Landkreis Starnberg überdurchschnittlich hoch sind.

Nicht in allen Landkreisen zeigt sich die gleiche Tendenz

Warum die vielen kleinen Bausteine ausgerechnet ausgerechnet im Münchner Umland zu einem Drittel mehr ALG II-Beziehern geführt haben, auch dafür hat Reiml einen Erklärungsversuch: Hohe Mieten und Lebenshaltungskosten verlangen den Menschen hier viel ab. "Viele stemmen das mit unterschiedlichen Familieneinkommen, von der Frau, die nebenbei putzt, bis zu den erwachsenen Kindern in der Gastronomie. Aber das ist ein fragiles Konstrukt. Fällt ein Nebeneinkommen weg, wird es ganz schnell schrecklich dünn."

Im Vergleich zeigen sich bei den Landkreisen unterschiedliche Tendenzen. So stiegt die Rate im Landkreis Freising weiter, im Mai verzeichnete man hier 919 ALG II-Beziehende, im April 893 und im März 854. Auch in Ebersberg stiegen die Zahlen, im Mai waren es 652, im April 629 und im März 597 arbeitslos Gemeldete. Einen ganz leichten Rückgange gab es dagegen im Landkreis Erding mit 642 Empfängern, nach 646 im April und 595 im März. Im Kreis Dachau zählte man im Mai 639, im April 671 und im März 660.

© SZ vom 08.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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