Sängerhort Freising:"Ohne Veränderung würde es uns nicht mehr geben"

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Bühne hoch über dem Isartal: Der Sängerhort Freising unter der Leitung von Adela Casañas gab auf der Naturfreundehütte eine Kostprobe seines Könnens. (Foto: Marco Einfeldt)

Der älteste Chor Freisings feiert seine Gründung vor 135 Jahren und blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Nicht nur einmal stand er kurz vor dem Aus. Von einem traditionsbewussten Männerchor hat er sich zu einem gemischten Rock-Pop-Ensemble gewandelt.

Von Victoria Hehle, Freising

"Seid ihr bereit?" - "Jederzeit!" , ruft es aus einem Klassenzimmer im Josef-Hofmiller-Gymnasium. Es ist Dienstagabend, die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sind schon längst zuhause, stattdessen stehen in dem hellen Raum etwa 30 Erwachsene rund um das Klavier. Es sind Mitglieder des Chors Jederzeit, die gerade ihre Probe mit Einsingübungen starten. Hinter der Gruppe, deren Name von dem wöchentlichen Aufwärmritual inspiriert ist, steht der Sängerhort Freising, der ein besonderes Jubiläum feiert. 135 Jahre gibt es den Verein schon, er kann sich somit stolz als ältester Chor Freisings bezeichnen.

Gegründet wurde der Sängerhort im Jahr 1888 von sieben Angehörigen der Kunstanstalt Carl Kraft. Damals galt das "Sozialistengesetz" in Deutschland - sozialdemokratische und kommunistische Vereine waren verboten. Arbeiter trafen sich daher öfter unter dem Deckmantel von Sport-, Wander- oder Gesangsvereinen. Weil auch der Sängerhort vorwiegend aus Arbeitern bestand, wird vermutet, dass dies ebenfalls der Tarnung diente. Den Eindruck verstärkt der damalige Name "Allotria", was auf Griechisch so viel wie Unfug bedeutet.

Spaß hatte der Chor wohl über die Jahrzehnte hinweg, denn die "Probezeiten" im Gasthaus gingen oft bis zwei oder drei Uhr morgens, wie der Freisinger Heimatforscher Hans Gruber in seiner Dokumentation über die Vereinsgeschichte feststellt. Inzwischen fließt der Alkohol nur nach dem Üben, beim monatlichen Feierabenddrink. Auch die Chorwochenenden und gemeinsamen Ausflüge stärken das Miteinander. "Wir sind ja nicht nur zum Singen hier, sondern weil wir uns mögen", sagt Vorsitzende Astrid Manciu.

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Weil der Chor zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann doch als seriös wahrgenommen werden wollte, kam es 1902 zur Namensänderung. Aus Allotria wurde Sängerhort. Damit startete auch der Aufschwung des Gesangsvereins, der zu dem Zeitpunkt schon 25 Männer als Mitglieder vorweisen konnte. Frauen waren zunächst nicht zugelassen, aber nur ein paar Jahre später wurden junge Damen angeworben, die den Männerchor bei öffentlichen Auftritten mit ihren Stimmen unterstützten. Dennoch stellte sich bei einer Abstimmung im Jahr 1919 eine Mehrheit gegen eine Mitgliedschaft der 21 Frauen, die regelmäßig mitwirkten.

"Die Damen bekunden eine große Liebe zum Verein, doch will man sie nicht binden", hieß es im Protokoll der Sitzung. Erst 1956 änderte sich das. Längst hat sich das Blatt gewendet: Die Mehrheit der 59 aktiven Mitglieder ist weiblich, stattdessen fehlen Tenöre. Bässe sind ausreichend vertreten, "anscheinend gibt es zu wenig Männer, die sich trauen, hoch zu singen", witzelt Jürgen Mohr, der einzige Tenor in der Gruppe. Er wird bei den Proben immer von ein paar Frauen unterstützt.

Abgesehen davon mangelt es dem Chor nicht an Stimmen. Das war zeitweise anders: Besonders in den Kriegsjahren stand der Verein kurz vor dem Ende, da viele der Sänger eingezogen worden waren. Um den Sängerhort während des Ersten Weltkrieg zu retten, schloss man sich temporär mit der ähnlich mager besetzten Freisinger Liedertafel zusammen. 1938 kam es zu einer neuen Kooperation, doch diesmal unfreiwillig. Unter dem Nazi-Regime wurden die drei Freisinger Gesangsvereine Liedertafel, Sängerhort und Einigkeit gezwungen, sich als gemeinsamer Chor unter dem Namen "Sängerschaft Freising" zu vereinigen. Erst nach Kriegsende war es möglich, den Sängerhort wieder aufleben zu lassen.

Gleich mit zwei Chören ist Adela Casañas beim Benefizkonzert der Bürgerstiftung dabei. (Foto: Marco Einfeldt)

Das Verhältnis zu den anderen Chören in Freising ist heutzutage sehr harmonisch. Adela Casañas etwa leitet nicht nur die Chöre Jederzeit und Coro Latino, die zum Sängerhort gehören, sondern auch den Gospelchor Freysing Larks. So manches Chormitglied tanzt ebenfalls auf mehreren Hochzeiten wie Gerd Bach, der seit etwa vier Jahren bei Jederzeit singt und bei zwei anderen Chören mitwirkt. "Rock und Pop hat mir aber noch gefehlt", sagt er und grinst.

Er schätzt das Liederrepertoire des Sängerhorts, das sich primär aus Rockklassikern zusammensetzt. Oft vertreten ist dabei Queen, etwa mit "Bohemian Rhapsody", aber auch Werke der Rolling Stones oder von Michael Jackson performen die Chormitglieder begeistert. "Ich finde es toll, dass man 30, 40 Jahre Popgeschichte aus seiner Kindheit hat und das jetzt singt", sagt Gerd Bach.

"Bohemian Rhapsody" statt "Hoch auf dem gelben Wagen"

Dass Pop-Rock einmal das Markenzeichen des Sängerhorts werden würde, daran hätte noch vor wenigen Jahren kaum jemand gedacht. In den ersten hundert Jahren lag der Fokus auf deutsch-nationalen, romantischen Liedern, aber auch Mundart-Stücke kamen nach und nach dazu. Im neuen Jahrtausend begann sich das Repertoire und somit auch der Chor selbst langsam zu wandeln. Petra Weispfenning ist schon seit 14 Jahren Mitglied: "Als ich dazugekommen bin, war der generelle Altersdurchschnitt höher und wir hatten eher Bayerisches und Deutsches im Repertoire." Dadurch gab es Probleme mit dem Nachwuchs. "Die jungen Leute wollten nicht Sachen wie "Hoch auf dem gelben Wagen" singen", erzählt Weispfenning. Sie sei damals mit 45 Jahren eines der jüngsten Mitglieder gewesen. Jetzt liegt das Durchschnittsalter bei etwa 52.

Als 2010 erstmals eine Frau die Chorleitung übernahm, wurden Änderungen eingeläutet. So schafften es etwa Songs der Beatles ins Programm. "Einige waren damals dagegen, weil sie kein Englisch konnten", sagt Weispfenning. Als Alternative wurden "fetzigere" deutsche Lieder wie etwa "Mackie Messer" gesungen. Nach und nach übernahmen dann dennoch englische Songs die Oberhand. "Das war eine wichtige Veränderung, denn ohne das würde es uns heute nicht mehr geben."

Die stetige Weiterentwicklung liegt auch Chorleiterin Adela Casañas am Herzen. Als "steif" beschreibt sie den Zustand des Chors, als sie ihn vor acht Jahren übernommen hat. Die gebürtige Spanierin arbeitet seitdem erfolgreich daran, mehr Lockerheit in die Gemeinschaft zu bringen und die Mitglieder zum Auswendig-Singen zu motivieren. "Ein Pop-Rock-Chor mit Noten in der Hand ist doch ein bisschen komisch", sagt Casañas und lacht. Die größte Herausforderung der 42-Jährigen ist es allerdings, dem "Jederzeit"-Chor zu mehr Selbstsicherheit zu verhelfen. "Der Chor glaubt selber nicht, wie gut er ist und das bremst ihn."

Mehr Unterstützung für neue Mitglieder

Ein wenig zurückgeworfen hat den Sängerhort die Pandemie. Auch nachdem die Einschränkungen aufgehoben worden waren, hätten viele noch immer Angst gehabt, zum Chor zurückzukommen, schildert Adela Casañas. Die Pandemie sei noch in den Köpfen gewesen. Als der Chor im Juni 2022 die Gelegenheit bekam, im Zuge einer Queen-Ausstellung sein Repertoire erstmals wieder aufzuführen, wurde er von einem begeisterten Publikum empfangen. "Da wusste ich, wir sind wieder da", erinnert sich die Chorleiterin.

Etwas Positives konnte dennoch aus der Pandemie mitgenommen werden. So nimmt Adela Casañas seitdem jede einzelne Stimme der Songs als Audio auf und verschickt sie an die Mitglieder. Das gibt ihnen die Chance, auch außerhalb der Proben zu üben. Durch die Extraeinheiten habe sich auch das Übungstempo vergrößert, freut sich Gerd Bach: "Dadurch lernen wir richtig viele Lieder, das sorgt dann auch für Herausforderungen und Abwechslung." Sängerin Isabella Stettner bietet zudem ein kostenloses Vocal Coaching an. Das helfe besonders neuen Mitgliedern, in den Chor hineinzuwachsen, so Bach.

Das Jubiläumskonzert des Sängerhorts findet am Sonntag, 12. November, im Freisinger Lindenkeller statt.

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