Hygienemängel bei Müller-Brot:Unser täglich Brot

Lesezeit: 3 min

Die Hygienemängel bei Müller-Brot verunsichern die Verbraucher - noch mehr als bisherige Lebensmittelskandale. Denn Brot ist nicht irgendein Lebensmittel, sondern das Synonym für Ernährung. Vielleicht ziehen die Verbraucher diesmal endlich Konsequenzen - und handeln künftig gegen die Interessen des eigenen Geldbeutels, dafür aber im Sinne einer besseren Ernährung.

Matthias Drobinski

Brot duftet. Der Geruch frisch gebackener Brötchen kann selbst triste U-Bahn-Zwischenstockwerke in kleine Heimaten verwandeln: Hast du Hunger? Hier ist einer, der ihn stillt. Frisches Brot mit guter Butter ist eine Delikatesse, schon allein deshalb ist es ein Skandal, dass sich die Kunden der Müller-Großbäckerei nicht sicher sein können, dass in den vergangenen zwei Jahren nicht auch Mäuse, Kakerlaken und sonstiges Getier von jenem Mehl naschten, aus dem dann später ihre Wecken und Brotlaibe wurden.

Produktion eingestellt: Ein Laster mit Lebensmittel-Abfällen verlässt in Neufahrn den Betriebshof von Müller-Brot. (Foto: dpa)

Der wahre Skandal aber greift tiefer, weil Brot nicht irgendein Lebensmittel ist. Brot ist das Synonym für Ernährung, ein Zeichen des Lebens und der abwesenden Not. Seit die Ägypter vor 5000 Jahren den Sauerteig erfanden, hat Brot auch eine kulturelle und politische Dimension; im Verhältnis zum Brot zeigt eine Gesellschaft, wie sie leben will.

"Unser tägliches Brot gib uns heute", heißt es im Vaterunser seit 2000 Jahren - in der Bitte lebt der Schrei der Verhungernden aller Zeiten genauso wie die Sorge um den Arbeitsplatz; im christlichen Abendmahl bekommt das Brot eine transzendente Bedeutung. Als das Gerücht umging, Marie Antoinette habe gesagt, die hungernden Leute in Frankreich sollten, wenn sie kein Brot hätten, doch Kuchen essen, da war die Revolution nicht mehr fern. Brotpreise waren immer politische Preise. Teuerungen führten zu Revolten, Subventionen stabilisierten Herrschaften. Die DDR setzte bis zu ihrem Ende die Brotpreise fest, als Ausweis sozialistischer Errungenschaft: Mochte es in den Läden nur noch graugewordene Konserven geben, billiges Brot musste immer da sein. Selbst in Österreich setzte bis in die siebziger Jahre der Staat die Preise fest.

Ja, billiges Brot ist eine soziale Errungenschaft, bezahlbare Lebensmittel sind ein Fortschritt in Menschlichkeit; wie sehr, wissen in Deutschland in ganzer Dimension nur noch jene, die sich am Ende des Krieges nach einem Kanten Brot sehnten, mehr als 65 Jahre ist das nun her. Es hat ja niemand aus bösem Willen Großbäckereien, Schweinemastbetriebe und Mega-Gewächshäuser gebaut und den weltweiten Lebensmittel-Import-Export-Kreislauf in Gang gesetzt.

Am Anfang des heutigen partiellen Lebensmittel-Irrsinns standen die völlig berechtigten Bedürfnisse von Menschen und die völlig legitimen Gewinnerwartungen jener, die diese Bedürfnisse erfüllten. Nur hat sich irgendwann die Maschinerie beschleunigt und verselbständigt bis ins Absurde hinein, zum Schaden von Mensch, Klima, Umwelt.

Es wäre ungerecht, die Entwicklung, was das Brot angeht, Bäckermeister Müller senior aus München alleinhaftend anzukreiden, weil er 1953 die erste industrielle Semmelbackmaschine der Welt aufstellte. Die Geschichte des Brotes seit diesem Tag ist allerdings bezeichnend: Es begann der Siegeszug der Großbäckereien und der Niedergang des Handwerks, die flächendeckende Verbreitung des gleich schmeckenden Kamps-Müller-Backwerks und die Verdrängung des nicht aus der Backmischung geborenen Wecken in die Öko- und Manufactum-Nische. Es war der Sieg der Bäcker, die lieber um sieben Uhr das Aufbacken beginnen, statt um halb vier in der Backstube zu stehen, und der Kunden, die billiges Brot wollen und Wecken für ein paar Cent, sonst eigentlich nichts.

Die großen Handelsketten produzieren inzwischen eigenes Backwerk, der Brötchenkrieg geht, bei (auch durch Spekulation) steigenden Mehlpreisen, um große Mengen und geringe Margen. Das Brot hat seinen Wert verloren. Es gebietet nicht mehr Ehrfurcht, es ist Ramsch. Die Mäuse und Kakerlaken bei Müller sind ein Menetekel.

Die Verbraucher, also alle Wecken- und Semmel-Esser, haben in den vergangenen Tagen in einer Mischung aus Überempfindlichkeit und Hilflosigkeit reagiert. Die Berichterstattung und die dort überlieferten Zitate empörter Müller-Kunden klangen manchmal, als seien demnächst die ersten Brötchentoten zu erwarten. Der ins Hysterische gesteigerte Ausdruck, durchs Essen am eigenen Leib und Leben getroffen zu sein, gehört mittlerweile zum Repertoire jedes Lebensmittelskandals. Das hätte dann seinen Sinn, wenn es helfen würde, das Verhältnis zum Brot als Lebensstilfrage zu begreifen und nicht nur die nächste Tüte Wecken dort zu kaufen, wo sie fair gebacken werden - fair gegenüber dem Bäcker und dem Lebensmittel an sich.

Doch das passiert ja nicht, es ist ja bei noch keinem Lebensmittelskandal passiert. Die Leute erschrecken, klagen und fühlen sich gar ein bisschen krank. Sie kaufen ein paar Wochen woanders ein, dann siegt die Übermacht des Angebots. Es ist ja auch nicht einfach, permanent gegen die Interessen des eigenen Geldbeutels zu handeln. Der Vorrat des guten Willens muss da ziemlich groß sein.

Man kann jetzt mit einigem Grund den zuständigen bayerischen Ministern vors Bein treten, weil sie nicht schnell und entschieden genug gehandelt haben. Man kann von der Politik verlangen, jetzt strengere Gesetze zu formulieren und häufiger prüfen zu lassen, man kann auch die Müller-Bäcker beschimpfen ob ihrer Nachlässigkeit. Die Mäuseplage dort wird bald enden. Das Erschrecken über den Niedergang des Brotes aber sollte bleiben.

© SZ vom 09.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: