Freimann:Die Wucht des Wandels

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"Wo's stinkt", spottete Christian Ude einst über Freimann. Ein neues Buch zeichnet die Entwicklung vom Dorf zum Industriestandort nach

Von Stefan Mühleisen, Freimann

Gäbe es eine Volksabstimmung unter Freimannern für eine Abspaltung von Schwabing, einen "Freixit" wenn man so will, er hätte wohl durchaus Chancen auf Erfolg. In Bürgerversammlungen des 12. Stadtbezirks Schwabing-Freimann ist immer mal wieder ein Meer von emporgereckten Stimmkarten zu beobachten, wenn Besucher den Antrag auf einen eigenen Bezirk stellen, bisher vergeblich. Die Sehnsucht der Freimanner nach Eigenständigkeit ist ungebrochen. Der Begleitsound dazu ist ein spezieller Freimanner Grant, und der hat gute Gründe.

Es ist der Ingrimm von Bürgern, die es satthaben, dass ihr Stadtteil quasi traditionell als Abladeplatz für alles, was stinkt und lärmt, herhalten muss: Kläranlage, Müllberg, Verkehrsschwemme, Gewerbegebiete. Scherze auf ihre Kosten gibt's gratis dazu: "Wo's so stinkt", spottete der ehemalige OB Christian Ude 2004 über den für ihn offenbar lächerlichen Plan, ein Fußballstadion in Fröttmaning zu errichten.

Allein, die Allianz-Arena zählt heute zu den Münchner Wahrzeichen, über den Müllberg ist Gras gewachsen - und das Image Freimanns wandelt sich. Da kommt ein neues Buch über diesen nördlichen Stadtteil gerade recht: Das vorzügliche und reich bebilderte Werk von Brigitte Fingerle-Trischler "Freimann im Münchner Norden. Vom Dorf zum Stadtviertel der Gegenwart" (Volk Verlag, 24,90 Euro) ist überfällig. Es ist höchste Zeit für eine Würdigung Freimanns, das in 100 Jahren eine erstaunliche Metamorphose vom Dorf zum Industriestandort durchmachte; zumal über Schwabing schon Regalmeter veröffentlicht wurden, es zu Freimann aber keine Gesamtdarstellung, lediglich eine längst vergriffene Monografie des Stadtarchivs gibt. Es ist nur folgerichtig, dass Brigitte Fingerle-Trischler sich der Aufgabe annahm, der "besten Kennerin der Geschichte Freimanns", wie der Leiter des Münchner Stadtarchivs, Michael Stephan, im Vorwort formuliert.

Sie ist Vorsitzende des Trägervereins für das Kulturzentrum Mohr-Villa; als Verantwortliche für das Archiv verfügt sie über einen großen Fundus an Quellen, vor allem aus bisher unerforschten Nachlässen. Sie hat die Masse an Fotos, Dokumenten, Plakaten, Postkarten zu einer "opulenten Gesamtgeschichte Freimanns" (Stephan) zusammengesetzt.

Über Jahrhunderte ist dies die Geschichte eines idyllischen Fleckens mit einem Dutzend Höfen im äußersten Orbit der großen Stadt. Fingerle-Trischler faltet ein detailreiches Panorama des dörflichen Lebens auf, illustriert mit Fotos, Landkarten, Skizzen von Szenen mit Pferdefuhrwerken, Bauersleuten, Festzügen. Ihr gelingt mit dieser Mikroperspektive ein über den Einzelfall hinausreichendes Schlaglicht auf die Beschwernisse einer Kommune, die sich in die Moderne müht. Einer Dorfgemeinschaft aus Bauern, Handwerkern, Tagelöhnern und einem Gutshof, dem Groh-Hof von Heinrich Groh. Viele Münchner wandern oder radeln in jenen Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Hirschau nach Norden zur Siedlung jenseits der Stadtgrenze; die "Restauration Floriansmühle" ist ein beliebtes Ausflugsziel, überliefert durch bunte aquarellierte Postkarten.

Doch die Metropole streckt ihre Fühler nach der 500-Einwohner-Gemeinde mit ihren gut 1420 Hektar Fläche aus - und sie verfangen bei den Freimanner Grundstückseigentümern, allen voran bei Heinrich Groh, der durch Einheirat in eine Ziegeleibesitzerfamilie zu Vermögen und den weitläufigen "Groh-Gründen" kommt. Er verkauft einen Großteil der Ländereien an Investoren, die Villenkolonie "Blütenau" entsteht, Kernensemble des heutigen Freimanns an der Situlistraße. Vor allem aber entstehen Straßen für ein Industriegebiet - auf ihnen rollt der Fortschritt herbei und krempelt das Dorf vollkommen um: 1916 siedelt der Krupp-Konzern die Bayerischen Geschützwerke an. Ein Hofbesitzer nach dem anderen verkauft sein Anwesen. "Ein Bild industrieller Bauarbeit, wie es in solchem Umfang München noch selten und in technisch so großzügiger Weise niemals gesehen hat", wie ein damaliger Zeitungsbericht es beschreibt. Wo früher Schafe grasten, rauchen nun die Schlote.

Die Reichsbahn drückt Freimann vollends den prägenden Stempel auf: Sie gestaltet die Kruppsche Waffenschmiede Ende der Zwanzigerjahre zum Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) um, eine riesige Werksanlage zur Wartung von Lokomotiven und Güterwagen öst- und westlich der heutigen Lilienthalallee, wo in einer gigantischen Dampflokrichthalle mit 36 500 Quadratmeter Fläche gewerkelt wird. Der brummende Wachstumsmotor spült Hunderte Neubürger nach Freimann in eine eigens errichtete Siedlung für Eisenbahn-Arbeiter und ihre Familien.

1931 wird Freimann ein Stadtteil Münchens; es ist mit den Ortsteilen Alt- und Neufreimann, Kultursheim, Aumeister, Klein- und Großlappen sowie Fröttmaning auf 2108 Einwohner angewachsen - und das Reichsbahnausbesserungswerk wird eine Bühne für die Propaganda des NS-Regimes, mit Arbeiter-Aufmärschen und einem 30 Meter hohen Mast, an dem die Hakenkreuzfahne flattert. Die Nazis verpassen dem Stadtteil noch einen Prägestempel, indem sie ihn mit vier neuen Kasernen zum Militärstandort ausbauen.

In der Nachkriegszeit kommen Bund, Land und Stadt auf die Idee, die A 9 München-Berlin bis zum Mittleren Ring weiterzubauen, auf dass die Autobahn auch symbolisch für die Überwindung der deutsch-deutschen Spaltung stehen möge. Freimann zahlt den Preis: Die Autobahn teilt den Stadtteil in zwei Hälften, wobei noch ein riesiges Brückenbauwerk, der "Tatzelwurm", in die Stadtlandschaft gefräst wird. Nicht nur Autoabgase, auch stinkende Rauchschwaden vom brennenden Müllberg in Großlappen verpesten das Viertel, jahrzehntelang. "Freimanns Image war auf lange Sicht beschädigt", urteilt Fingerle-Trischler. Die Freimanner Seele auch. Die muss seit den Sechzigerjahren obendrein das stetig wachsende Gewerbegebiet Euro-Industriepark aushalten. "Freimann will nicht länger der Dreckkübel der Stadt sein", bringt es 1982 ein Besucher bei der Bürgerversammlung auf den Punkt.

Der Frust, dass sich die Wucht des Wandels in Freimann traditionell nicht um die Bevölkerung schert, hält sich zäh - doch er ist in neuerer Zeit nicht mehr so verstört zu vernehmen, was auch ein Verdienst der groß angelegten Ideenwerkstatt "Perspektive Freimann" ist, angestoßen 1999 vom örtlichen Bezirksausschuss. Viele der Erwartungen werden zwar enttäuscht: Etwa, dass die riesige Dampflokrichthalle zu einer "neuen Mitte" umgestaltet wird - das denkmalgeschützte Bauwerk beheimatet einen Baumarkt und das bald fertige Eventensemble "Motorworld".

Doch Lokalpolitik und Bevölkerung erobern sich mit dem Planwerk zumindest ein wenig Handlungsmacht zurück. Sie setzten durch, dass die Zukunft des Stadtteils nicht mehr über ihre Köpfe hinweg gestaltet wird. Und zu gestalten gibt es viel. Freimann ist heute mit großen Neubauprojekten - vor allem jenes auf dem Gelände der ehemaligen Bayernkaserne - Schauplatz einer prosperierenden Stadtentwicklung. Der Dreckkübel-Ruf wird bald verhallt sein, Abspaltungsfantasien der Vergangenheit angehören. Brigitte Fingerle-Trischler schreibt in ihren Schlussbetrachtungen, die leider arg kurz ausfallen, vom "Reiz der Gegensätze, die Freimann wenn auch nicht zu einem bevorzugten, so doch zu einem liebens- und lebenswerten Stadtteil machen".

© SZ vom 26.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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