Kochel am See:Das Ende der Idylle

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Das Aquarell "Schiff mit Kruzifixus und sitzendem Leoparden (Kreuzfahrende im Sturm)" stammt aus dem Skizzenbuch XXVIII, das Franz Marc in den Jahren 1912/13 nutzte. (Foto: collecto.art / Franz Marc Museum)

Eine neue Ausstellung im Franz Marc Museum Kochel spürt der Frage nach, was den Maler dazu bewog, im Frühjahr 1913 apokalyptische Motive in sein Werk aufzunehmen.

Die Farbe Rot beherrscht das Bild. Rot ist der gigantische, umstürzende Baumstamm, rot die spitzen Strahlen, die die Tiere zu treffen drohen, rot glimmt auch der Himmel. Franz Marc hat das Gemälde "Tierschicksale" 1913 gemalt, ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Heute gilt es als eines seiner wichtigsten Werke. Doch angesichts des aktuellen Kriegs in Europa steht man eher bedrückt vor Marcs apokalyptischen Visionen. Setzen sie doch die Vernichtung einer falschen Werten folgenden Welt voraus, damit eine neue Schöpfung in einem geistig gereinigten Europa wieder entstehen kann. Marc fiel 1916 bei Verdun, ohne dass sich seine Überzeugungen geändert hatten.

Eigentlich geht es in der neuen Ausstellung im Kochler Franz Marc Museum aber um die Frage, was den Maler dazu bewog, im Frühjahr 1913 apokalyptische Motive in sein Werk aufzunehmen und die paradiesische Idylle, bis dahin prägend für sein Werk, zu verlassen. 80 Gemälde, Zeichnungen, Skizzen und Druckgraphiken, darunter zahlreiche Leihgaben, versuchen diese Entwicklung nachzuvollziehen. Gründe dafür gab es natürlich mehrere, aber eine wichtige Inspirationsquelle - und auf sie legt die Ausstellung den Fokus - dürfte Gustave Flauberts "Legende von Sankt Julian dem Gastfreien" (1877) gewesen sein. Ein ungeheuerlicher Text, nachzulesen in "Krieg als Opfer?", einem anlässlich der Ausstellung erschienenen Essayband von Museumschefin Cathrin Klingsöhr-Leroy und Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. Oder in voller Länge nachzuhören auf der Website des Museums (franz-marc-museum.de/tierschicksale/).

Apokalypse und Katharsis

Flaubert zeichnet in der Novelle ein Bild von Apokalypse und Katharsis, das Marcs Denken entsprach. Er erzählt die Lebensgeschichte des Julianus Hospitator, eines frühmittelalterlichen Ödipus', der unwissentlich seine Eltern ermordet; lange büßt er, bevor er schließlich zum Heiligen wird. Anders als in der ursprünglichen "Legenda Aurea" des Jacobus de Voragine ähnelt Flauberts Julian einem sadistischem Killer. Als Jäger bringt er jedes Tier um, das zufällig seinen Weg kreuzt, egal ob Reh, Hase, Fuchs, Wildschwein, Igel, Perlhuhn, Biber oder Hermelin. Einem schlafenden Auerhahn hackt er im Vorüberreiten beide Füße ab. Nie wird er des Niedermetzelns müde. Als er während eines Jagdtages ein kleines Tal voll von Hirschen sieht - "sie wärmten sich, dicht aneinandergedrängt, mit ihrem Atem ..." -, nimmt ihm die Aussicht auf ein Blutbad vor Freude kurz den Atem. "Dann stieg er vom Roß, krempelte seine Ärmel auf und begann zu schießen." Flaubert protokolliert das barbarische Verhalten nüchtern und leidenschaftslos und damit schwer auszuhalten.

Von einer Jagdszene in Flauberts Novelle dürfte die Bleistiftzeichnung "Sterbendes Reh" (1908) inspiriert sein. (Foto: collecto.art / Franz Marc Museum)

Marc hat sich, wie die Ausstellung dokumentiert, mehrmals mit der Novelle beschäftigt. Erstmals vermutlich bereits 1907, wenig später entsteht eine Lithografie, die ein in einem Pfeilhagel sterbendes Reh zeigt. Dann wieder 1913, jenes Jahr, in dem Marc im Frühjahr nach Tirol reiste und sich zunehmend mit dem Futurismus und dem spektralfarbigen Orphismus Robert Delaunays auseinandersetzte. Auch andere Künstler faszinierte Flauberts Erzählung übrigens, allerdings weniger Julians Blutrausch. Heinrich Campendonk malte eine Szene aus dem späteren Leben Julians, in der er als Fährmann einen Leprakranken über den Fluss setzt.

In Marcs Skizzenbuch XXVIII finden sich viele Zeichnungen und Aquarelle, die sich durch handschriftliche Notizen eindeutig auf einzelne Szenen der Flaubert-Novelle beziehen lassen. Sie münden in einen doppelseitigen Entwurf des Gemäldes "Tierschicksale". Marc gab dem Aquarell den Titel "Die Bäume zeigen ihre Ringe, die Tiere ihre Adern" und nannte so zunächst auch das große Bild, das heute im Kunstmuseum Basel hängt und nicht mehr ausgeliehen werden darf - Kochel zeigt es nur als wuchtiges Repro. Doch Paul Klee regte den deutlich weniger dramatischen Titel "Tierschicksale" an, den Marc nach einigem Zögern übernahm.

Das Auarell "Noah mit den Füchsen" (1913) schenkte Franz Marc seinem Freund Paul Klee für den Titelvorschlag "Tierschicksale". (Foto: Walter Bayer, München / Franz Marc Museum)

Als Dank für den Ratschlag schenkte ihm Marc das Aquarell "Noah mit den Füchsen". Unmittelbar daneben hängt der heilige Julian, in blauer Rüstung auf einem blauen Pferd reitend, ein Krieger, kein Jäger. Besser konnte Marc die Unterschiede zwischen sich und Klee nicht darstellen. Klee, dem der Gedanke an eine Reinigung des europäischen Geistes durch Zerstörung völlig fremd war, treibt als Noah die Tiere in die rettende Arche, während Marc als Krieger den Untergang durchlebt. Klee war es übrigens auch, der auf Wunsch Maria Marcs die "Tierschicksale" nach dem Krieg restaurierte. Durch einen Brand war das Bild bei einer Marc-Gedächtnisausstellung schwer beschädigt worden. Zum Dank schenkte ihm die Witwe eines der letzten Werke Marcs, die "Kleine Komposition I" (1913).

Marc kämpfte bereits an der Front, als er 1915 eine Postkarte mit der Schwarz-Weiß-Abbildung seiner "Tierschicksale" erhielt. Betroffen schrieb er an seine Frau Maria: "Es ist wie eine Vorahnung des Kriegs, schauerlich und ergreifend; ich kann mir kaum vorstellen, dass ich es gemalt habe."

Tierschicksale. Franz Marc, Paul Klee und Gustave Flaubert, 13. März - 17. Juli, Franz Marc Museum Kochel am See .

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