Fotografie:Im Stadtlabyrinth

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Wie ein Kartograf hat sich Lukas Loske mit der Kamera auf einen 100 Kilometer langen Weg quer durch München gemacht, immer einem orangeroten Kabel nach. In der Fotoschau "Ariadne" in der Seidlvilla zeigt er das Bild einer rätselhaften Metropole

Von Jutta Czeguhn

Längst haben wir unsere Orientierung outgesourct. Diese kleine Maschine in unserer Hand navigiert uns auf ausgetretenen, digitalen Pfaden, hilft uns jedoch kaum weiter, wenn es darum geht, wirklich zu begreifen, wo wir sind. Ein sinnliches, bedingungslos analoges Gefühl für einen Ort zu entwickeln, das ist nur möglich, wenn man nicht auf ein Display starrt, sondern den Kopf oben behält und die Augen umherschweifen lässt. Lukas Loske hat sich nicht von den blauen Richtungspunkten einer App leiten lassen. Beim Blick aus dem Fotostudio seines Vaters fiel ihm ein orangerotes Kabel auf, es verlief quer über den Willy-Brandt-Platz in der Messestadt Riem. Loske fragte sich, wo es herkommt, wo es hinführt und wer es gelegt hat. So begab er sich auf einen 100 Kilometer langen Fußmarsch durch München. Was er unterwegs fand, sind erstaunliche Motive für seine aktuelle Fotoausstellung in der Seidl-Villa. Titel "Ariadne".

"Von Handy-Apps halte ich nichts, ich bin immer analog unterwegs, genieße das Fragen nach dem Weg und nutze diese Zeit für einen Spaziergang", erzählt Loske, der von einem kostenfreien Nahverkehr träumt. Nicht zuletzt, um von Berg am Laim, wo er lebt, zur Akademie der Bildenden Künste an die Akademiestraße zu kommen. Dort studiert er seit 2014 in der Fotoklasse von Akademiepräsident Dieter Rehm, von dem er ganz offensichtlich gelernt hat, kein fertiges Bild im Kopf zu haben, sondern sich auf das einzulassen, was er vorfindet. "Da sich meine Idee des roten Fadens erst unterwegs entwickelt hat und ich nicht wusste, was ich da überhaupt tue, habe ich mich streng an das Kabel gehalten", erzählt Lukas Loske. Er hat sich also, ein wenig wie der antike Theseus, mutig ins Labyrinth begeben.

In einen Irrgarten von faszinierender Komplexität, denn wie Wanderer Loske rasch recherchiert hatte, handelte es sich bei der ominösen Linie in Orange lediglich um die oberflächliche Abbildung einer verborgenen Struktur. Die Kabel gehörten zu einem seismischen Messverfahren, mit dem die Stadtwerke sich eine dreidimensionale Karte des Münchner Untergrunds bis hinunter in drei Kilometern Tiefe erschaffen wollten. Um Standorte für Erdwärmebohrungen auszumachen. Loske erfuhr auch, dass dazu über Monate zwischen Herbst 2015 und Frühjahr 1000 Kilometer Kabel verlegt worden waren.

Unerbittlich folgt er dem mäandernden Weg des Kabels von der Messestadt bis nach Gräfelfing. Mäandernd folgen ihm nun die Besucher der Ausstellung auf vier Stockwerken in der Seidlvilla. Wie ein nervöser Flusslauf mit heftigen Herzrhythmusstörungen durchquert der Parcours von Ost nach West eine Stadt, die einem komplett unvertraut, rätselhaft fragmentarisch und fast menschenleer erscheint. Am kleinen Babenhausener Weg wickelt sich das Kabel mit zärtlicher Eleganz um ein Straßenschild. Wo sind wir hier? Ramersdorf. Es hangelt sich die Handläufe trostloser Unterführungen entlang, wird zur Zierde gesichtsloser Fassaden, überwindet öde Straßenkreuzungen, verweilt in schamanisch anmutenden Umschlingungen an einem Baum. Doch weiter, immer weiter.

Manchmal wird die Fotografie zum Suchbild, scheint der rote Faden verloren zu sein, obwohl er präsent sein muss. Kartograf Loske hat sich für Momente der anderen Straßenseite zugewandt, weil dort etwas seine Aufmerksamkeit wollte: orangefarbene Bauteile, das rötliche Licht einer Straßenlaterne, ein rot-weiße Bahnschranke. Dann wieder lässt er die Stadt aus ihrer Anonymität heraustreten, gibt Orientierung auf dieser Schnitzeljagd. Das Kabel scheint über dem O₂-Tower am Georg-Brauchle-Ring zu schweben, als warte es auf einen Seiltänzer, und die stolze Kirche St. Maximilian an der Isar wird zur Kulisse einer Jugendstil-Kabelskulptur. Loskes Fotografien schwanken zwischen der rohen, ungeschlachten Ästhetik des Dokumentarischen und einer Komponiertheit, die etwa durch Fragmentierung ein schnödes Kabel zum abstrakten Artefakt werden lässt.

Die Stadtkarte, die Lukas Loske so systematisch wie buchstäblich beiläufig und auch mit sehr leisem Humor kreiert, feiert ein München der Koexistenzen, Unterzonen, Peripherien, die das Kabel für ein paar Monate auf unlösbar-intime Weise miteinander kurzgeschlossen hat. Doch ist Ariadnes Faden, dieser Energiestrang, immer noch da, tief im Münchner Untergrund. Loskes Schau in der Seidl-Villa macht Lust darauf, sich irgendwo in München an einer Straßenecke aussetzen zu lassen und von dort aus einfach loszuziehen, um die Stadt mit einem umständlich ausfaltbaren Papier-Plan zu erkunden. Ein Trip durch Labyrinth, hoffentlich ohne Stress mit Minotauros zu bekommen.

"Ariadne", Fotografien von Lukas Loske, zu sehen bis 29. März in der Seidlvilla, Nikolaiplatz 1 b. Öffnungszeiten: täglich von 12 bis 19 Uhr. Am Donnerstag, 21. März, um 18 Uhr bietet der Fotograf eine Führung durch die Ausstellung an. Der Eintritt ist frei.

© SZ vom 15.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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