Ernst Toller und die Revolution:"Auch die Schule gemeinsamer Haft ist eine Schule des Lebens"

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Der Dichter Ernst Toller führte die Münchner Räterepublik in ihrer letzten Phase und wurde dafür zu fünf Jahren Haft verurteilt. Sein Schreiben war immer auch Positionsbestimmung in der Geschichte.

Von Christian Jooß-Bernau

"Ich kann nicht einmal mein eigenes Stück sehen. Ich lache über meine Rührseligkeit - aber irgendein Schmerz ist doch dabei", schreibt der Autor am 1. September 1920 in einem Brief, den er aus seiner Zelle in Niederschönenfeld schickt. Am selben Abend hat sein erstes Drama "Die Wandlung" Premiere an den Hamburger Kammerspielen. Seit über einem Jahr sitzt Ernst Toller da schon im Gefängnis. Erst in Stadelheim, dann im Festungsgefängnis Eichstätt und jetzt in Niederschönenfeld.

Knapp vier Jahre liegen noch vor ihm: Zensur, Schikane, Einzelhaft, Kälte und die langsam verkümmernden Tage. Toller aber will sich nicht brechen lassen: "Auch die Schule gemeinsamer Haft ist eine Schule des Lebens, eine Schule des Erlebens der nackten Menschlichkeit", schreibt er nach zwei Jahren ohne Freiheit. Rar wie der Blick in den Himmel sind kleine Momente der Leichtigkeit im alltäglichen Grübeln. Einmal bittet er um eine Badehose, weil seine "morgendlichen Freiübungen" Anstoß erregen.

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"Die Wandlung", sein 1919 veröffentlichte Drama, es endet feurig erweckt: "Brüder recket zermarterte Hand / Flammender freudiger Ton! / Schreite durch unser freies Land / Revolution! Revolution!" Die Wandlung, mit einer Hauptfigur namens Friedrich expressionistisch überhöht, ist künstlerischer Ausdruck von Tollers eigenem Lebensweges, der 1893 im heute polnischen Samotschin beginnt. Die Familie ist jüdisch, bürgerlich, die Eltern haben einen Laden. Der kleine Ernst sammelt Kaiserbilder. Zum Studium geht er nach Frankreich, Grenoble. Er fährt durch die Provence. In Sarajewo wird der österreichische Thronfolger ermordet. Toller kehrt zurück nach Deutschland, steigt in München aus dem Zug und meldet sich für den Krieg. Nachzulesen ist das in seiner Autobiografie "Eine Jugend in Deutschland".

Toller ist ein Kriegsbegeisterter, einer aus der Masse der jungen Männer, die mit Vaterlandspathos im Herzen aufbrechen und den Krieg lieben bevor sie ihn kennenlernen. Toller lernt ihn kennen. In einem Schützengraben in Frankreich. Tote hat er schon viele gesehen, wahrgenommen nicht. Wie er gräbt, in seinem Graben, bleibt sein Pickel an etwas hängen. Er zieht und zerrt. Und dann hängt an der Spitze des Pickels ein schleimiger Knoten - Gedärm. "Ein toter Mensch ist hier begraben", schreibt er. "Ein - toter - Mensch."

Die Zeit und ihre Grausamkeiten formen Ahnung zu Erkenntnis und wecken das Bedürfnis einzuwirken: "In dieser Stunde weiß ich, daß ich blind war, weil ich mich geblendet hatte, in dieser Stunde weiß ich endlich, daß alle diese Toten, Franzosen und Deutsche, Brüder waren, und daß ich ihr Bruder bin." Verantwortung abschieben kann Toller, der Unteroffizier, nicht. Er selbst ist es, der sich geblendet hat, nicht Kaiser und Propaganda. Sein Handlungsauftrag ist unmissverständlich. "Ihr habt Jesus Christus in Holz geschnitzt und auf ein hölzernes Kreuz genagelt, weil ihr selbst den Kreuzweg nicht gehen wolltet, der ihn zur Erlösung führt ...", wird seine Figur Friedrich in "Die Wandlung" am Ende in ihrer großen Rede rufen. Jeder ist gefordert, am Leid der Welt mitzutragen. Und Toller geht voran. Den ersten Entwurf des Dramas fertigte Toller 1917, "im dritten Jahr des Erdgemetzels", da ist er 23.

Zwei Jahre später, im Frühjahr 1919 wird er zum Vorsitzenden des Zentralrats der Räterepublik bestimmt. Hinter ihm liegt die Teilnahme an einem Streik Münchner Munitionsarbeiter. Daraus folgend die Inhaftierung im Militärgefängnis in der Leonrodstraße. Später die Einweisung in die Psychiatrie. Als zweiter Vorsitzender des Zentralrats der bayrischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte reist er wenig später durch Deutschland und überlebt bei seinem ersten Versuch, als Politiker ein Flugzeug zu nehmen gleich zwei Bruchlandungen hintereinander.

Ein irrwitziges Provisorium

Anfang 1919 ist er ganz oben angelangt. Kurt Eisner ist schon tot, ermordet, die erste Phase der Münchner Revolution vorbei. Wie Eisner ist Toller Mitglied der USPD und nun auch deren Vorsitzender. Seine Partner und gleichzeitig Gegenspieler bei dem Versuch, die Revolution zusammenzuhalten sind die Kommunisten, für die Tollers linkssozialistische Einstellung viel zu gemäßigt ist. Die Räterepublik, wie Toller sie beschreibt, erscheint in seinem Rückblick als irrwitziges Provisorium.

Ein gewisser Dr. Lipp beispielsweise wird Leiter des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten: "Ein Arbeiter, bei dem ich mich nach Dr. Lipp erkundige, sagt, er kenne den Papst persönlich. Andere Männer werden mit Ämtern betraut, die zwar nicht den Papst persönlich kennen, aber doch den Dorfpfarrer." Lipp schreibt Depeschen die keinen Zweifel lassen, dass er wahnsinnig geworden ist. Samariter holen ihn schließlich in seinem Büro ab. Toller hat Visionen, Illusionen hat er wenige. Die Macht an sich scheint keinen Reiz auf ihn auszuüben. Vielleicht macht ihn das zum Mann der Stunde. Es ist wohl kein Zufall, dass, je wackeliger die Revolution auf den Beinen steht, Toller, der nicht versucht, seine Haut zu retten, immer mehr Verantwortung zufällt.

Die weißen Truppen der Konterrevolution sind im Anmarsch, wird er Heerführer. Die Begründung dafür, und möglicherweise den entscheidenden Einblick in die Motivation seines politischen Handelns, lässt Toller in seiner Autobiografie einen alten Arbeiter liefern: "Oana muaß sein Kohlrabi herhalten, sonst gibt's an Saustall, und wennst nix vastehst, wirst es lerna. Die Hauptsach is, Dich kennen wir." Toller geht voran, mag die Situation auch noch so aussichtslos scheinen.

Als er sich Anfang der 30er-Jahre rückblickend selbst betrachtet, ist die Sprache, klar, rasant, zupackend und oft von einer Komik, die ihn selbst am wenigsten schont. Ganz anders sein zweites Drama: "Masse Mensch", dass in der Haft aus ihm herausbricht. Im Mittelpunkt steht Sonja Irene L., inspiriert von Sarah Rabinowitz, Mitkämpferin beim Streik der Munitionsarbeiter. Ihr Name aber tut nichts zur Sache, weil auch sie in diesem Spiel eine Idee ist - des Mitleidens mit den ausgebeuteten Arbeitern. Sie ist Sprachführerin des Aufstands.

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Jedoch: "Genossen, im Letzten überwind ichs nicht. Kampf mit Eisenwaffen vergewaltigt." Die Antwort des "Namenlosen": "Auch Kampf mit Geisteswaffen vergewaltigt." Um die Dynamik der Masse geht es Toller, die Umwälzung und die Unwucht zwischen Gewalt und friedlicher Veränderung. Der Sprachduktus in den entscheidenden Passagen ist expressionistisch bis ins Extrem, elliptisch, fragmentiert. Was hier spricht ist auch Tollers Fassungslosigkeit gegenüber den sich überschlagenden Ereignissen, die ihn ins Gefängnis führten. In den letzten Tagen der Räterepublik kommt es angesichts der herannahenden Truppen der Weißen zur Erschießung von zehn Personen im Luitpoldgymnasium. Verantwortlich ist der Oberkommandant Rudolf Eglhofer.

Toller steht vor den Hingerichteten und weiß, dass er sie sofort wegbringen lassen muss. In seiner Biografie verwahrt er sich dagegen, dies seien Geiseln gewesen, spricht von acht Mitgliedern, der "völkischen Thule-Gesellschaft". Den Weißen werden die Morde als Rechtfertigung für ihre Massaker in München dienen. Toller ringt mit dem Verhältnis von Gewalt und Revolution, wie später die Linken im Deutschen Herbst. Mal versucht er es abstrakt dialektisch, wie in seinem Brief an den Philosophen Theodor Lessing: "Der einzelne Mensch kann den Tod wollen. Die Masse muss das Leben wollen. Und da wir Mensch und Masse in einem sind, wählen wir Tod und Leben." Mal ist er der Pragmatiker des Umsturzes, wie vor dem Standgericht 1919: "Ich würde mich nicht Revolutionär nennen, wenn ich sagte, niemals würde es für mich in Frage kommen, bestehende Zustände mit Gewalt zu ändern."

So ist Tollers Schreiben immer auch Positionsbestimmung in der Geschichte, ein Versuch, die Dinge zu sortieren. Sein drittes Drama, "Die Maschinenstürmer", geschrieben 1920/21 in Niederschönenfeld, nimmt sich die historische Bewegung der Ludditen, englischer Textilarbeiter, vor. Über den Umweg der Historie kommt Toller wieder zum Erzählen, ohne dass ihm der Wahnsinn der Gegenwart die Sprache zerschießt. Ganz menschlich gerät ihm sein nächstes Drama, "Der deutsche Hinkemann", über einen, der kastriert aus dem Krieg kommt, dessen Frau ihn betrügt, auch sie unrettbar verstrickt in Not und Notwenigkeit. Natürlich: Titel, Figurennamen und die symbolträchtige Handlung lassen keinen Zweifel, dass es Toller auch hier nicht um eine Milieustudie, sondern um das große, ganze Deutschland geht.

Kein "Urteil des Rechts" sondern ein "Urteil der Macht"

Der Mensch in diesem Weltgefüge - er wird bei Toller zur leidenden Kreatur. Die Kraft mitzuleiden lässt Toller bemerkenswert unideologisch durch eine Zeit schreiten, die nach Radikalisierung schreit. Sein in der Münchner Post vom 17. Juli 1919 überliefertes Schlusswort vor dem Standgericht zeigt, dass er mit sich im Reinen ist: "Ich habe alle meine Handlungen aus sachlichen Gründen, mit kühler Überlegung, begangen und beanspruche, daß sie mich für diese Handlung voll verantwortlich machen." Selbstredend ist dieses Urteil für ihn aber kein "Urteil des Rechts" sondern ein "Urteil der Macht".

Am 15. Juli 1924 wird er freigelassen. Eine kurze Phase des Erfolges als Bühnenautor beginnt. Dann zieht die Dunkelheit in Deutschland auf. Noch vor der Machtergreifung der Nazis emigriert er in die Schweiz. Paris. London. Kalifornien. Zuhause verbrennen sie seine Bücher. Toller kämpft. Zuletzt gegen die faschistische Diktatur in Spanien. Franco putscht sich an die Macht. Müßig, darüber zu diskutieren, inwieweit die politischen Entwicklungen Tollers Depressionen auslösten und verstärkten. Ohne die Politik ist der Dichter Ernst Toller nicht denkbar. Am 22. Mai 1939 erhängt er sich im Mayflower Hotel am Central Park in New York.

© SZ vom 27.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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