Prozess wegen versuchten Totschlags:Viel Alkohol und wenig Erinnerung

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Für Totschlag sieht das Strafgesetzbuch eine Freiheitsstrafe von nicht weniger als fünf Jahren vor. Im Fall eines 49-Jährigen, der sich derzeit am Landgericht verantworten muss, blieb es laut Anklage jedoch beim Versuch. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Bei einem Streit in einem Erdinger Arbeiterwohnheim verletzt ein 49-Jähriger seinen Widersacher mit einem abgebrochenen Flaschenhals. Sprunghafte Zeugenaussagen und große Erinnerungslücken erschweren die Beweisaufnahme.

Von Alexander Kappen, Landshut/Erding

Die Vorwürfe wiegen schwer. Wegen versuchten Totschlags muss sich derzeit ein 49-Jähriger am Landgericht Landshut verantworten, weil er im Juli 2023 bei einem Streit in einem Erdinger Arbeiterwohnheim einen Nachbarn mit einem abgebrochenen Flaschenhals im Gesicht verletzt haben soll. Doch die Beweisaufnahme vor der als Schwurgericht tagenden ersten Strafkammer unter Vorsitz von Richter Ralph Reiter gestaltet sich zäh. Bei der Fortsetzung der Hauptversammlung am Dienstag offenbarten wichtige Zeugen teils große Erinnerungslücken oder fielen mit einem sehr sprunghaften Aussageverhalten auf.

Herauszufinden, wie genau es bei der Auseinandersetzung zu der Schnittverletzung im Gesicht des 34-jährigen Geschädigten gekommen ist, gestaltet sich für die Kammer schwierig. Zu klären ist, ob der Angeklagte tatsächlich gezielt zugestochen oder seinen Widersacher womöglich mehr oder weniger aus Versehen bei dem Gerangel geschnitten hat.

Der Geschädigte hatte bei seiner Polizeivernehmung teilweise ganz andere Aussagen gemacht als in der Verhandlung. "Auch zu den Aussagen der anderen Zeugen hat das gar nicht gepasst", berichtete am Dienstag ein Beamter der Erdinger Kriminalpolizei, der den 34-Jährigen damals vernommen hatte. Zu der Auseinandersetzung war es am 15. Juli 2023 gekommen, als eine Gruppe von mehreren Männern und einer Frau auf einer Dachterrasse des Arbeiterwohnheims beim Grillen und Feiern beisammen saß.

Bei der Polizei erzählte der 34-Jährige laut dem Kripo-Beamten zunächst, er sei mehr oder weniger "sofort vom Angeklagten attackiert worden", nachdem dieser eine Flasche am Balkongeländer abgeschlagen habe. In der Verhandlung berichtete er dann, er habe überhaupt nicht gesehen oder mitbekommen, dass der 49-Jährige die Flasche zerschlagen habe. Er glaubte sich sogar zu erinnern, der Angeklagte habe eine unversehrte Flasche in der Hand gehabt.

"Das war ein Verhältnis wie David gegen Goliath"

Dem widersprachen jedoch die Zeugen, die bei der Grillfeier dabei waren. Demnach gerieten die beiden Widersacher, zunächst wohl sitzend, in Streit, der Angeklagte nahm die Flasche und zerschlug sie am Boden. Im weiteren Verlauf kam es offenbar zu einem Gerangel, bei dem der Angeklagte mit dem abgebrochenen Flaschenhals vor seinem körperlich klar überlegenen Kontrahenten stand. Ein 46-jähriger Zeuge, der an dem Grillabend dabei war, bezeichnete das körperliche Verhältnis "wie David gegen Goliath". Auf der einen Seite der Angeklagte mit seinen rund 60 Kilogramm, daneben der Geschädigte mit mehr als 100.

Weder der 46-Jährige noch der Geschädigte noch eine andere Zeugin - von der man nicht genau weiß, ob sie nun die Freundin des Angeklagten war, wie er sagt, oder nur eine Freundin, wie sie selbst sagt - haben gesehen, wie es zu der Verletzung kam. Als die Kontrahenten die Schnittverletzung bemerkten, ließen sie den Erzählungen nach jedoch sofort voneinander ab und gingen jeweils auf ihr Zimmer. Der Angeklagte holte sich zuvor noch ein Messer aus der Küche. Dass er in seinem Zimmer "ich steche ihn ab" gerufen hat, wie in der Anklage stand, konnte die Zeugin am Dienstag nicht bestätigen.

Der Streit entzündete sich an einer Lappalie

Der Kripo-Beamte hatte den Eindruck, "dass die alle gar kein Interesse hatten, dass die Polizei anwesend ist, die hätten es wohl am liebsten selbst geregelt". Fakt ist, dass eine Menge Alkohol im Spiel war. An dem Abend und ganz allgemein im Leben des Angeklagten. Dieser bekannte selbst, ein Problem mit Alkohol zu haben und dagegen schon Medikamente genommen zu haben. In einem Brief, aus dem der Richter vorlas, schrieb der Angeklagte an seine Freundin: "Ich muss eine Therapie machen, der Alkohol bringt mich immer in Schwierigkeiten."

So auch an dem Abend, an dem es eigentlich um eine Lappalie ging. Der Angeklagte, dessen Alkoholisierung laut eines Zeugen "auf einer Skala von null bis zehn bei elf" lag, machte einen flapsigen Spruch über den Schwiegervater des Geschädigten. Dieser reagierte nach Darstellung eines Zeugen nicht wirklich besonnen, auch als sich der Angeklagte entschuldigte. "Das hat ihn noch wütender gemacht und er ist aufgestanden", sagte der Zeuge. Und so kam es zu der Auseinandersetzung zwischen "David und Goliath", die mit etwas Pech für Letzteren tödlich hätte enden können. Der Prozess wird fortgesetzt.

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