Eisenbahngeschichte:Zeitreise mit Lokalkolorit

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1976 wurde der Bahnhof von Walpertskirchen abgerissen und durch einen schlichten Haltepunkt ersetzt. Auf dem Bild fehlt bereits das Dach des Bahnhofs. (Foto: Karl Bürger/oh)

Karl Bürger hat ein neues Buch verfasst. Es geht keineswegs nur um Nostalgie für Eisenbahnfreunde. Am Beispiel dreier Bahnhöfe im Landkreis Erding illustriert er den Kahlschlag einer verfehlten Verkehrspolitik.

Von Thomas Daller, Walpertskirchen

"Zeit und Eisenbahn - eine nicht ganz typische Geschichte an einer unvollendeten Bahnstrecke", heißt die siebte Publikation des Fachbuchautors Karl Bürger aus Walpertskirchen. In seinem bislang persönlichsten Werk erinnert er an einen Mikrokosmos auf dem Land, in dem es mancherorts noch keine asphaltierten Straßen, wohl aber gut frequentierte Bahnhöfe gab: Hörlkofen, Walpertskirchen und Thann-Matzbach. Bürger, Jahrgang 1956, hat sich bereits als Kind für die Eisenbahn begeistert. Aber es blieb eine unerwiderte Liebe: Mit dem rasch wachsenden Autoverkehr begann der Niedergang der Bahn mit Kosteneinsparungen und Stilllegungen.

Bürger ist nicht nur Chronist, sondern mischt sich auch ein und kämpft seit 1989 als Mitglied von Pro Bahn für den Erhalt der Schieneninfrastruktur. Mehr denn je ist er davon überzeugt, dass man angesichts des Klimawandels eine funktionierende Eisenbahn mit bezahlbaren Fahrpreisen benötige. Aber er will seine Enttäuschung nicht verleugnen: "Früher habe ich die Bahn empfohlen. Jetzt kann ich das nicht mehr."

Karl Bürger stellt seine siebte Publikation zum Thema Eisenbahn vor. (Foto: Renate Schmidt)

Bürger ist weit davon entfernt, seine Kindheit auf dem Land als gute alte Zeit zu glorifizieren: Als Flüchtlingskind sei er der Prügelknabe der Bauernbuben gewesen, er erlebte eine bigotte Gesellschaft und hörte oft genug, er solle "das Maul halten". Mit unverstelltem Blick betrachtet er auch die Bahn und wechselt dabei immer wieder den Fokus von der bayerischen Provinz auf die Verkehrspolitik in Deutschland.

Ausgeschmückt wird das Buch keineswegs nur mit heiteren Anekdötchen. Denn in Walpertskirchen wurde auch Bahngeschichte geschrieben - und zwar mit Blut: Am 8. November 1951 rasten dort in den Morgenstunden ein Güterzug nach Mühldorf und ein Personenzug nach München ineinander. Dabei starben 16 Menschen, weitere 41 wurden zum Teil schwer verletzt. Es war das schwerste Unglück in der Geschichte der noch jungen Deutschen Bahn.

Beim Eisenbahnunglück 1952 in Walpertskirchen starben 16 Menschen, weitere 41 wurden zum Teil schwer verletzt. (Foto: Josef Petzhammer/oh)

Bürger belässt es aber nicht bei einer Nacherzählung, sondern löst gleich noch einen Cold-Case, wie man im Zeitalter der Crime-Podcasts sagt: Man machte damals als Sündenbock einen erst 23-jährigen Fahrdienstleiter verantwortlich, der fahrlässig gehandelt habe. Bürger hat die Originaldokumente durchforstet und kam zu einer anderen Schlussfolgerung: Ein fatales Nacheinander eines veralteten Einfahrvorsignals noch aus der Zeit der Königlich Bayerischen Bahn und ein modernes Hauptsignal lösten demnach das Unglück aus. Das Vorsignal deckte nur zwei Signalbereiche ab: Warten sowie einen Bereich zwischen "Obacht, langsam fahren" und "bis 40 Stundenkilometer gehen schon noch". Der Lokführer entschied sich für die schnellere Interpretation - und konnte dann nicht mehr rechtzeitig bremsen, als das folgende modernere Hauptsignal ihn zum Stoppen aufforderte. Der junge Fahrdienstleiter wurde dennoch als Schuldiger verurteilt.

Neben solcher detektivischer Detailarbeit scheut Bürger auch nicht davor zurück, eine Verkehrspolitik unter die Lupe zu nehmen, die einseitig den Straßenverkehr fördert und die Eisenbahn vernachlässigt. Für den Straßenausbau und -unterhalt zahle die Allgemeinheit, die Kosten des Schienenpersonennahverkehrs sollten jedoch durch die Fahrpreiseinnahmen gedeckt werden - was schier unmöglich sei, kritisiert er.

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"Der Fehler im Gesamtsystem ist: Die vermeintlich altmodische Daseinsvorsorge ist abhanden gekommen", schreibt Bürger. "Alles muss sich rechnen. Daran krankt das Gesundheitswesen ebenso wie die Pflege, die Kinderbetreuung, die Bildung bis hin zum fast zum Erliegen gekommenen sozialen Wohnungsbau. Und alles geht immer noch billiger, solange Kosten - Musterbeispiel Straßenbau - auf den Steuerzahler abgewälzt werden können."

Das zeige auch der Vergleich zwischen der Autobahn A94 und der Ausbaustrecke (ABS) 38 für den Schienenverkehr München - Mühldorf. Der zweigleisige Ausbau der Strecke München - Mühldorf sei seit 1909 geplant, wurde aber erst 1985 in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen. Seither sei im Landkreis Erding nichts mehr auf der Schiene geschehen, obwohl viele Pendler darauf gehofft hatten. Stattdessen wurde 2019 der 33 Kilometer lange Abschnitt der A94 durchs Isental fertig - und ein Teil der Pendler stieg wieder aufs Auto um.

"Das kann man auch niemandem verübeln", sagt Bürger. Und er klingt nicht defätistisch, sondern wie ein Realist, wenn er über die Fertigstellung der ABS 38 sagt: "Das erlebe ich nicht mehr."

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