Musik aus Vaterstetten:Bezwingende Kraft - auch aus der Ferne

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Das Duo "Aerophones" teilt sein Konzert in der Pfarrkirche via Internet mit dem Publikum und verdient Applaus dafür

Von Ulrich Pfaffenberger, Vaterstetten

So viele neue Privilegien, da lacht das Kritikerherz. Bei einer Stelle mal kurz nicht aufgepasst oder unscharf hingehört - einfach zurückspulen. Den Musikern nicht nur lauschen, sondern ihnen auf Mund und Finger sehen, während sie spielen - ganz neue Interpretationsmöglichkeiten tun sich auf. Während des Konzerts mehrfach den Platz wechseln, um unterschiedliche Positionen im klangerfüllten Raum zu testen - stehen wir mal kurz auf und tauschen Sessel mit Sofa. Ein schöner Beginn zum Besprechen eines Auftritts, der als Video im Internet veröffentlicht ist, mangels Möglichkeit zur Aufführung vor Publikum.

Für das jüngste Konzert des Duos Aerophones, das nun auf der Website des Pfarrverbands (erzbistum-muenchen.de/pfarrei/pv-vaterstetten) abrufbar ist, gilt indes: Nicht nur der Kritiker, auch das Publikum gewinnt auf Anhieb, stehen ihm doch die gleichen Möglichkeiten offen, mit der zusätzlichen Option, etwas nachzuholen, das einem entgangen ist, aus welchem Grund auch immer. Selbst die Künstler erreichen so eine größere Öffentlichkeit. Das Ergebnis: ein Hybrid zwischen Live-Konzert und CD. Verlockend für die Zukunft? Da mag mancher in Versuchung geraten, den gepolsterten häuslichen Komfort den harten Kirchenbänken der Vaterstettener Pfarrkirche vorzuziehen. Wir werden uns mit diesem Thema noch häufiger befassen müssen, sollte das Ausbleiben physisch anwesender Zuhörer den Charakter von Konzerten nachhaltig - und nicht unbedingt vorteilhaft - verändern.

Das Duo "Aerophones" aus Martin Seeliger (Saxofon) und Alexander Hermann (Orgel) bei der Aufnahme in der Vaterstettener Pfarrkirche. (Foto: Veranstalter)

"Technische Unzulänglichkeit" ist gegenwärtig wohl das schwerstwiegende Argument gegen eine solche Verlagerung beim Hören. Die wenigsten Haushalte sind derzeit dafür mit Abspiel- und Abhörgeräten ausgestattet, um das übers Internet verbreitete Original störungsfrei wahrzunehmen. Zum Glück hat sich das Duo Aerophones bei seinem Improvisationskonzert gegen ein Live-Streaming entschieden und lieber eine kuratierte Videoaufnahme ins Internet gestellt (https://youtu.be/oeilvzoulS4 ). Bei den meisten Titeln verleiht da ein herkömmlicher Laptop oder PC mit normalen, externen Boxen einen verlässlichen Eindruck, etwa beim grandios fantasierten Gedanken-Mosaik "Remember" für Orgel und Didgeridoo. Da kommen auch in den ruhigen, fein gewirkten Passagen die Schwingungen beider Instrumente deutlich besser zum Tragen, als man dies erwarten würde. Bei einem Titel wie "Olbia" aber, bei dem es um feine Nuancen in der Wiederholung des Motivs geht, bei dem die Orgel mitunter nur haucht und das Saxofon die Grenzen der Dynamik ausreizt, freut sich das Ohr über qualitativ hochwertige Hörhilfen, um alle Feinheiten aufnehmen zu können.

Zumal die Improvisationskunst (und -freude) von Alexander Hermann an der Orgel und von Martin Seeliger mit den Blasinstrumenten genau von diesen Feinheiten lebt. In ihnen drückt sich der "Geist des Augenblicks" aus, dem beide folgen und der jedes Konzert einzig macht. "Cochise" liefert hier das beste Beispiel, verbunden mit dem Anstoß zu philosophischer Überlegung: Einerseits geht durch mehrmaliges Hören das Unikat der Improvisation verloren. Andererseits entfalten Seeliger und seine Indianerflöte je nach technischem Kanal derart unterschiedliche Klangwirkungen, dass dennoch jedes Zuhören Neues beschert. Da erleben wir eine Form der Improvisation, wie sie bisher nur Jazz-Aufnahmen in relevanter Menge boten, und zu der Kamera, Regie, Tontechnik und Zuhörer das Ihre beitragen. Indem sie zum Beispiel in die Anfangstakte von "Tiger" das charakteristische Läuten der Kirchenglocken so geschickt einarbeiten, dass es nicht stört, sondern als inspirierender Gedanke von außen zufliegt, aus dem dann ein fantastisch blühender Klanggarten keimt - spirituell eine an Ausdruckskraft kaum zu überbietende Variation des Gleichnisses vom Samenkorn.

Die Aufnahme bietet eine gute Gelegenheit, sich ein Bild davon zu machen, was die beiden Musiker meinen, wenn sie ihre Form des Improvisierens beschreiben. Obwohl sie den einzelnen Stücken Titel geben, sind damit nur bestimmte Spielformen und Stimmungen gemeint, auf die sie sich verständigt haben. Was sie daraus - "das ist Gesetz" - vorab unbesprochen machen, entwickelt sich jedes Mal aufs Neue und eigenständig. "Es geht immer darum, beim Spielen herauszufinden, wo wir gerade stehen, was der Ort, unser persönlicher und gemeinsamer Zustand eben jetzt gerade aus diesen Vorgaben hervorbringen." Eine solche Herangehensweise braucht Vertrautheit, Freundschaft, Verlässlichkeit und Kunstfertigkeit zugleich, wie sie sich offenkundig im spirituellen Raum einer Kirche besonders gut ausbalanciert begegnen. Schon beim ersten Titel, dem "Love Call", entfaltet die Musik von Aerophones eine bezwingende Kraft. Es lohnt sich, sie wirken zu lassen.

© SZ vom 28.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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