SZ-Serie: Was bleibt?, Folge 4:Ehrfurcht vor der Welt als Vermächtnis

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Jeanette Sommerschuh aus Ebersberg hat ihrem Lebensgefährten, dem Künstler Brillo, versprochen, sich um seine Werke zu kümmern. Drei Jahre nach seinem Tod hat sie nun eine Ausstellung im Rathaus der Kreisstadt organisiert

Von Alexandra Leuthner

Der Stock ist ein lebendiges Wesen. Er sieht einen an, aus knallroten Augen, wie ein Fabeltier. Zugleich tanzt er, hebt die Arme, einem Derwisch gleich. Und ist doch nur ein Stock. Eigentlich ein Stück Treibholz, das der Künstler Brillo (bürgerlich: Peter Alan Gibson) bei einem Spaziergang am Inn in Wasserburg aus den angeschwemmten Überresten eines Hochwassers gezogen hatte. Dann hat er ihm einen Griff aus silbern schimmerndem Metall verpasst, seine Äste mit goldenen Spangen verziert, die wie Armreifen aussehen, ihn mit einem Krönchen und einem bedeutungsgeladenen alten Schlüssel versehen. Jetzt steht "The magic wand", der Zauberstab, in einer Ecke der Rathausgalerie und ist Teil der Ausstellung "Don't throw your world away", die dem 2014 verstorbenen Künstler gewidmet ist und einen großen Teil seiner Werke zeigt.

Auch für Fabelwesen verspürte Brillo eine Faszination. (Foto: Christian Endt)

Das meiste davon stammt aus Privatbesitz. Seine Lebensgefährtin Jeanette Sommerschuh und einen engen Freund, der nicht in der Öffentlichkeit stehen will, hatte Brillo noch zu Lebzeiten gebeten, sich um seine Sachen zu kümmern. Nur wenige Stücke gehören anderen Privatleuten oder waren zu groß, um sie ausstellen zu können. Brillo habe sich zeitlebens nur schwer trennen können von seinen Werken, sagt Sommerschuh. Verständlich, stellt man sich die unendliche Arbeit vor, die er in seine Objekte investiert haben muss. Etwa in den "Flying Scottsman", den Nachbau einer berühmten Dampflok, die von 1923 an auf kürzester Strecke zwischen dem Londoner Bahnhof Kings's Cross und der schottischen Hauptstadt Edinburgh verkehrte. Aus alten Computerplatten, Radios, Besteck, allem, was er auf dem Sperrmüll fand, baute Brillo seine Objekte und, Ingenieur, der er war, die Sachen mussten am besten auch noch funktionieren und so originalgetreu wie möglich aussehen. So ruhte er nicht, bis er in den Heizraum der alten Lok sämtliche Hebel, Züge, Beschriftungen und Heizklappen, Sitze und Holzkisten eingebaut hatte, die auch im Original zu finden waren. Die Sitze bezog er ebenso mit Leder. Zu einem 70 Zentimeter großen Schaufelbagger inspirierte ihn eine Kartoffelpresse, die er im Schrott gefunden hatte. Die Einstiegstreppen in seine "Waltzing Mathilda", eine Dampfwalze, bilden die Wirbel einer ausrangierten Gitarre. Die roten Augen des Zauberstabs stammen aus einer Granatkette, das Emblem der Waltzing Mathilda war einst eine Brosche seiner Lebensgefährtin und das Gerüst seines "Spoonman", eine Gabelfigur, die durch eine Riesenlupe auf ein einziges Reiskorn blickt, entwendete er aus ihrer Besteckschublade. "Ihm war nichts heilig", erzählte Sommerschuh mit einem Lächeln auf den Zügen, einem wehmütigen Lächeln allerdings.

Eröffnet wurde die Ausstellung von Galeristin Antje Berberich, Bürgermeister Walter Brilmayer und Jeanette Sommerschuh, der Lebensgefährtin Brillos (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Am 10. August wäre Brillo 70 Jahre alt geworden - Sommerschuh ist es mit Unterstützung von Ebersbergs Stadtarchivarin Antje Berberich gelungen, genau zu diesem Datum die Eröffnung der Gedenkausstellung im Rathaus zu organisieren, in der auch der "Doseneber" zu sehen ist, den Brillo kurz nach seiner Ankunft in Ebersberg zu Ehren der Stadt gemacht hatte. Vier Monate lang, erzählt Sommerschuh, habe Brillo an dem Eber gearbeitet, beeindruckt von der Stadt, die ihn so gut aufgenommen habe, und ihrem Wappen. Das ulkige Ding, zusammengesetzt aus Dosen und mit einem Lautsprecher als Schweinsnase, ist so schwer, dass der Künstler das Tier mit den dünnen Beinen in der Werkstatt, wo er eine Zeitlang jobbte, an die Decke hängen musste - wie ein Auto, dem ein Mechaniker an die Antriebswelle gehen muss. Für Motoren, besonders die von alten Harley-Davidson-Bikes, hatte der gebürtige Engländer ohnehin eine Menge übrig: In seiner Ebersberger Zeit wohnte er in einer kleinen Wohnung neben jener Werkstatt, die einem Freund gehörte, und verdiente sich mit Harley-Reparaturen einen Teil seines Lebensunterhalts. Er schrieb auch zwei Bücher - von so schwarzem Humor jedoch, sagt sein guter Freund Peter Stefan aus Forstinning, dass kaum jemand sie lesen wollte. Zudem sang er in einer Band und tat auch ansonsten alles, um unter sein früheres Leben, das er als der Ingenieur Peter Alan Gibson geführt hatte, einen dicken Strich zu ziehen.

Peter Alan Gibson alias Brillo wurde in England geboren. Seine letzten Jahre verbrachte er in Ebersberg. (Foto: privat/oh)

Das lag wohl vor allem an einem Schicksalsschlag, über den er Zeit seines Lebens kaum reden konnte oder wollte. "Dabei war er brillant in seinem Beruf", sagt Peter Stefan. Gibson sei der einzige Ingenieur gewesen, der spezielle Bohrungen in verstrahlten Bereichen von Atomkraftwerken durchführen konnte - da sei ihm seine Neigung zum Einzelgängertum zugute gekommen. So war er nicht nur im englischen Sellafield im Einsatz, sondern, im Auftrag zweier englischer Spezialfirmen, in Atomkraftwerken weltweit. Dann verlor er seine beiden kleinen Söhne bei einem Unfall, verließ England und schwor, niemals wieder dorthin zurückzukehren. In seinem künstlerischen Schaffen aber lebt seine Heimat weiter - bis heute.

Handwerkliches Geschick und eine tiefe Liebe zur Natur verbinden sich im künstlerischen Schaffen von "Brillo", alias Peter Alan Gibson. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Geboren in London, wohnte Gibson nach dem frühen Tod der Mutter bei Vater und Stiefmutter, zog später zu seiner Großmutter, die außerhalb der Hauptstadt zu Hause war - in der Nähe einer Umkoppelstation der Eisenbahn. "Nachts konnte er von seinem Fenster aus das Glühen der Heizkessel sehen", berichtet Sommerschuh. Die Küche ihrer Ebersberger Wohnung baute Brillo später komplett im Stil einer englischen Landküche um. Aus seinen Jugendtagen brachte er auch den Spitznamen mit, unter dem er als Künstler bekannt wurde. Damals hatte er als Kranführer auf Baustellen gearbeitet, oben habe stets der Höhenwind in seine blonde Lockenmähne geblasen, was seine Kumpels zu dem Spitznamen animierte - Brillo, zu deutsch: Stahlwolle. Bei einem Sturz aus der Krankanzel zog er sich aber auch eine schlimme Rückenverletzung zu, die ihn bis zu seinem Tod quälen sollte.

Nur aus Fundstücken und Schrott gestaltete er allerhand Fabelwesen, einen Zauberstab und technische Geräte wie den Nachbau einer Dampflok. (Foto: Christian Endt)

Wenn man Fotografien von Brillo in die Hand nimmt, glaubt man, einen zutiefst ernsten Menschen vor sich zu haben. Offenbar hat er sich gerne genau so fotografieren lassen, "dabei war er gar nicht so", erzählt Peter Stefan. "Im Gegenteil, wir konnten stundenlang mit ihm lachen." Hilfsbereit sei er gewesen, ohne Zögern sei er eingesprungen mit all seinem technischen Geschick, wenn Not am Manne war.

Im Herbst 2007 war Brillo nach Ebersberg gezogen, hatte sich so sehr in die Stadt - und wohl auch in seine Lebenspartnerin verliebt, dass er verkündete, hier begraben werden zu wollen. "So eilig hätte er es damit allerdings nicht haben müssen", sagte Sommerschuh, der es nicht leicht gefallen sein muss, die Ausstellung zu organisieren - und sich dafür auch nur vorübergehend von jenen Sachen zu trennen, die Brillo in ihre Hände gegeben hatte. Darunter ist ein Drache, an dem er zwei Jahre lang gearbeitet hatte, bis er ihr das schuppige Metalltier zum Geburtstag schenken konnte. Das Fabelwesen besteht wie alle seine Objekte aus Resten von Dosen und anderem Schrott, jede Schuppe auf den filigranen Flügeln ist ein eigener Tropfen Lötzinn.

Derzeit ist im Ebersberger Rathaus eine Gedächtnisausstellung zu sehen. (Foto: Christian Endt)

Die alten Dinge, die Brillo um- und einbaute, waren für ihn aber viel mehr als nur Inspiration, nämlich Ausdruck einer tiefen Ehrfurcht vor der Welt. Dem "ewigen Kreislauf des Lebens" hatte er schon in Bildern, die er noch in England gemalt hatte, gehuldigt. So zeigt eines seiner Gemälde das "Rad des Lebens", und zwischen den Speichen den Weg der Menschen von der Entstehung über Jugend, Ehe, Alter bis zum Tod und Wiederbeginn - womit der Künstler seine spätere Objektkunst gewissermaßen bereits skizziert hat: Brillo habe "in allen Dingen eine Verwendung, ein Weiterleben gesehen", sagte Sommerschuh. Und mit seiner Kunst darauf hinweisen wollen. So steht der Eber mit seinen dünnen Beinen auf den Deckeln unzähliger Dosen - unter anderen Umständen also nichts als Müll, der ohne weiteren Verwendungszweck in der Umwelt gelandet wäre. Alte Lautsprecher haben ihren Sinn bei Brillo nicht nur als breite Nase des Ebers, sondern auch als Füße eines aus Blechdosen gefertigten Phönix gefunden.

Im Spannungsfeld zwischen seinem technischen Beruf und dem Wissen darum, was wir Menschen unserer Mitwelt antun können, hat Brillo in seiner Kunst beides vereint: seine handwerklichen Fähigkeiten, als Ingenieur die Welt zu verändern und zu formen, und seine tiefe Überzeugung, dass es wichtig ist, eben diese Welt und die Natur zu bewahren. In der Schönheit seiner metallenen Rosen, die einzigen seiner Kunstobjekte, die er gerne und reichlich verkaufte, hat sich diese Liebe manifestiert. "Dont't throw your world away", "Schmeiß' deine Welt nicht weg", ist damit im doppelten Sinne sein Nachlass. Lebt in seiner Arbeit, im Doseneber ebenso wie in einer Weißen Frau mit einem Faltenwurf aus Öldosen, das greifbare Ergebnis seiner Kunstfertigkeit weiter, so bleibt als ideelles Vermächtnis die Idee von einer Welt, auf der kein Bierdeckel, kein altes Besteck, kein Stückchen Treibholz umsonst da gewesen sein muss.

Die Ausstellung über Brillo ist bis Freitag, 29. September, im Rathaus zu sehen. Der Doseneber wandert anschließend wieder ins Landratsamt, der "Rubbish Robot" mit seinem Hund "Müllo" - zusammen gesetzt aus einem Lattenrost, einem alten CD-Radio, dem Kopf eines Straßenbesens und einer alten Taschenuhr - bleibt im Rathaus. Auch die Weiße Frau, als Geschenk an die Schirmherrin der Ausstellung Antje Berberich, wird wohl einen Platz im öffentlichen Raum bekommen - und Brillos Lebensgefährtin das Versprechen erfüllen, das sie ihm am Grab gegeben hat: Dafür zu sorgen, dass er niemals vergessen wird.

Interessenten können sich an Jeanette Sommerschuh, j.sommerschuh@gmx.de wenden.

Alle bisher erschienenen Folgen der Serie über die Künstlernachlässe im Landkreis Ebersberg gibt es hier.

© SZ vom 29.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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