SZ-Adventskalender:Zu wenig arm

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Obwohl Selma P. und ihr Mann arbeiten, kommt die Familie mit vier Kinder gerade so über die Runden. Auf staatliche Hilfen können sie aber nicht hoffen - dafür verdienen sie ganz knapp zu viel.

Von Alexandra Leuthner

Als Selma P. mit ihrem ersten Kind schwanger wurde, war sie 19. Sie folgte einem Mann aus ihrer Heimat Tschechien nach Deutschland, von dem sie damals nicht wissen konnte, wie viel Schaden er ihr und den beiden Söhnen, die sie von ihm haben sollte, antun würde. Er misshandelte sie, bis sie schließlich vor seinen Misshandlungen aus der Stadt in der Oberpfalz floh, in der sie damals lebte. Streitereien um das Sorgerecht folgten. Der jüngere Sohn leide, wie sie erzählte, noch heute, mit 23, unter Depressionen.

Selma P. ließ sich scheiden, lernte über eine Verwandte ihren zweiten Mann kennen - Yassin P., der aufgrund eines Staatsvertrags in den 80er Jahren als Gastarbeiter in die damalige DDR gekommen war. Mit ihm bekam sie vier weitere Kinder. Die Familie zog nach Rosenheim, später in den Landkreis. Von dem Gehalt, das Yassin P. in der DDR erhalten hatte, verschwand der größte Teil in seiner Heimat. "Mad Germans" werden jene Austauschgastarbeiter in Mosambik genannt. Sie kämpfen bis heute um ihren Lohn.

Für die Ausbildung als Maschinenführer, die Yassin P. in der DDR erhalten hatte, gebe es heute keinen entsprechenden Job mehr, erklärte Ulrike Bittner vom AWO-Kreisverband Ebersberg. Sie kümmert sich seit Jahren um die Familie. "Familien wie diese sind am allerärmsten dran. Sie verdienen gerade ein bisschen zu viel, um staatliche Hilfe wie einen Zuschlag zum Kindergeld, Wohngeld oder aus dem Paket Bildung und Teilhabe zu erhalten." 1700 Euro netto bekommt Yassin P. für seinen Vollzeitjob als Busfahrer, aber die Kaltmiete für das kleine Häuschen weit draußen am Rand einer Ortschaft, kostet schon 1225 Euro, Nebenkosten kommen noch dazu. Von den 800 Euro, die Selma in einem Teilzeitjob in einer Münchner Firma für Beflockungen verdient, steckt das Ehepaar jeden übrigen Cent in ihre Kinder, den Fußballverein, Schulsachen. "Wir wissen selbst, wie es ist, keinen Schulabschluss zu haben", sagt Selma - ihr tschechischer Abschluss als Näherin wurde hier nie anerkannt - "deshalb sagen wir ihnen, ihr müsst lernen."

Die Ältesten, 16 und 15 Jahre alt, haben jetzt beide einen Ausbildungsplatz, als Einzelhandelskaufmann und Arzthelferin. "Wir wollen, dass sie ihr Ausbildungsgehalt behalten, aber das klappt nicht ganz", erzählt Selma P. Der Drittälteste steht mit seinen 14 Jahren vor dem Quali, braucht Nachhilfe in Deutsch und Mathe, das aber kann die Familie ebenso wenig bezahlen wie Winterschuhe, einen neuen Herd oder Weihnachtsgeschenke. Das gilt auch für eine Zahnspange für die Jüngste. "Die Zahnärztin hat gesagt, sonst wird das Gebiss so schief", erklärt Selma und hält erklärend die Hände seitlich vor den Mund. "Das kann ich nicht zulassen, das ist doch für ein hübsches Mädchen genau so schlimm wie keinen Abschluss zu haben." (Die Namen wurden redaktionell geändert.)

© SZ vom 01.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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