SZ-Adventskalender:Stolz und Scham

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Seitdem das Ehepaar Wahlinger in Rente ist, spielt sich das Leben in den eigenen vier Wänden ab. Mittlerweile verlassen die beiden meistens nur für Arztbesuche und den wöchentlichen Einkauf bei der Tafel ihre Wohnung

Von Johanna Feckl

Für gewöhnlich geht Sabine Wahlinger einmal in der Woche einkaufen. Brot, Butter, Käse und Wurst, ein bisschen Obst und Gemüse, manchmal ein wenig Fleisch. Wie man das eben so macht. Eines ist bei ihr jedoch anders, als bei den meisten Lebensmittelkäufern: Sie geht dafür zur Tafel. "So weit bin ich schon", sagt die 77-Jährige. Aus ihrer Stimme spricht Bedauern. Und Scham. Es dauerte, bis Wahlinger sich durchgerungen hatte und zur Tafel ging. "Ich dachte immer: Das geht schon noch, das geht schon noch." Bis sie eingesehen hat, dass es eben nicht mehr geht. "Das Geld würde sonst einfach hinten und vorne nicht ausreichen."

Viele Jahre lang führte Sabine Wahlinger, die in Wahrheit anders heißt, zusammen mit ihrem Mann verschiedene Gastronomiebetriebe im Landkreis. Jedes ihrer Unternehmen verließen sie mit einem Verlust. Über die Gründe dafür kann Wahlinger nur spekulieren. Größtenteils hätten sie eine Stammkundschaft bewirtet, erinnert sich die 77-Jährige. Na ja, wie das eben so ist: Der eine heiratet und kommt nicht mehr, der andere zieht weg und kommt nicht mehr. So begannen die Kreise aus Stammkunden zu bröckeln, immer weiter, bis sie irgendwann für einen kostendeckenden Betrieb zu klein waren.

Damals sagte Wahlinger zu ihrem Mann: "Du wirst sehen, bis wir 60 sind, haben wir unsere Schulden abbezahlt." Und genau so war es dann auch. Nach der letzten Selbstständigkeit arbeitete Wahlinger noch einige Jahre in einem Angestelltenverhältnis, ihr Mann arbeitete auch. So schafften sie es gemeinsam, ihre Schulden allesamt zu begleichen. Das war und ist Wahlinger sehr wichtig: Man lebt nicht über die eigenen Verhältnisse, gibt nur das aus, was zur Verfügung steht. Ist es in Ausnahmesituationen doch einmal mehr, begleicht man diese Schulden zu einem späteren Zeitpunkt. Basta.

Heute leben die Wahlingers von Grundsicherung und einer sehr kleinen Rente. Das Problem ist, dass das Ehepaar während seiner Selbstständigkeit nicht speziell für das Alter vorgesorgt hat. "Wir dachten, das geht immer so dahin mit unseren Betrieben. Und damit sind wir dann so richtig auf die Schnauze gefallen", gibt die 77-Jährige zu. "Das war unser Fehler." Man hört die Reue deutlich aus Wahlingers Erzählung. Sie sitzt im Wohnzimmer auf ihrem Sofa. Es ist gemütlich dort. Die Jahrgänge der Möbel sind schon etwas älter, aber sehr gepflegt und individuell. Keine Billigware von großen Möbelhäusern, die sich für gewöhnlich in jedem jüngeren Haushalt finden lässt. Wahlinger trägt Ohrringe und eine filigrane Kette mit Anhänger. Alles Überbleibsel aus Zeiten, in denen sich das Ehepaar keine Sorgen machen musste, wie es ausreichend Lebensmittel kaufen kann.

Sabine Wahlinger schämt sich. "Früher ging es uns gut und jetzt nicht mehr. Das ist peinlich!", sagt sie. Der wöchentliche Gang zur Tafel fällt ihr schwer. Ihr Mann hat die Räumlichkeiten der Tafel bislang noch nie von innen gesehen. Zu groß ist die Angst, dass frühere Freunde und Bekannte davon erfahren könnten und sich auf einmal anders ihnen gegenüber verhalten. Abschätzig oder mitleidig. Beides möchte das Ehepaar nicht. "Niemand weiß, dass wir zur Tafel gehen und nicht so viel Geld haben. Ich würde mich selbst in den Boden hineinstampfen, wenn die Leute davon wüssten."

Selbst die Kinder und Enkel hätten kein klares Bild über die finanziellen Sorgen der Eltern und Großeltern, sagt Wahlinger. "Ich hab meine Kinder noch nie um einen Fünfziger gebeten. Da würde ich mir eher alle zehn Finger abbeißen, bevor ist das tue." Auch mit den Enkeln spricht sie nicht über Geld. Der Stolz, es alleine zu schaffen, weil es früher schließlich auch ging ohne jemanden um Hilfe zu bitten, er scheint sehr groß bei den Wahlingers zu sein.

Gleichzeitig ist da aber diese unglaubliche Bescheidenheit. Sabine Wahlinger betont, dass sie keinesfalls über ihre Verhältnisse leben möchte. "Das würde ich niemals tun! Ich haue mit dem Geld nicht umher, aber ab und an braucht man eben etwas." Wie etwa eine neue Waschmaschine. Die aktuelle hat nur Waschprogramme, die so viel Zeit benötigen, dass die Kleidung überbeansprucht und schnell kaputt wird. Die hohen Strom- und Wasserkosten kommen noch hinzu. Dinge, die sich die Wahlingers eigentlich nicht leisten können.

Knapp 600 Euro bleiben dem Ehepaar abzüglich Miete zum Leben. Von diesem wenigen Geld nimmt Wahlinger sogar jeden Monat noch etwas beiseite, um es zu sparen. Für Notfälle. Das ist der Grund, weshalb die Wahlingers die meiste Zeit in den eigenen vier Wänden verbringen: Unternehmungen kosten Geld. Sparen ist ihnen aber wichtiger. Dass der Ehemann seit Jahren schwer krank ist, das erwähnt Sabine Wahlinger beiläufig. So sei das eben, "da kann man nichts machen", sagt sie, immer wieder.

© SZ vom 29.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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