SZ-Adventskalender:Es tut weh

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Sein Leben lang muss sich Matthias M. schon für seine Schmerzen rechtfertigen: Diagnostiziert sind 17 verschiedene Krankheiten. Manchmal glauben Mediziner seiner Leidensschilderung aber auch nicht

Von Johanna Feckl

Matthias M. ( Name von der Redaktion geändert) hat ein Tattoo. Der 37-Jährige dreht seinen rechten Unterarm so, dass die Unterseite nach oben zeigt. Dort prangen ein langes Symbol und ein Schriftzug. Sein Blick ruht lange auf der Zeichnung. "Ich brauche es nur anzuschauen und weiß, wer alles hinter mir steht", sagt er. Das Tattoo war ein Geschenk. Ohne Hilfe hätte sich M. den Gang zum Tätowierer nämlich nicht leisten können: Er muss nach allen Abzügen mit monatlich 300 Euro zurechtkommen. In einem Angestelltenverhältnis arbeiten kann der 37-Jährige nicht, sein gesundheitlicher Zustand lässt das nicht zu. Erst im November und Dezember musste er wieder in verschiedenen Krankenhäusern behandelt werden. M. ist erwerbsunfähig. Trotzdem engagiert er sich bis heute ehrenamtlich in seinem Wohnort in der Jugendarbeit.

Wenn man M. fragt, an was für einer Krankheit er leidet, antwortet er zunächst nicht. Stattdessen wandert sein Blick auf den Bildschirm seines Computers. Ein paar Klicks. Dann ist ein Dokument zu sehen. Eins. Zwei. Drei. Lauter Zahlen und dahinter medizinische Fachbegriffe. Vier. Fünf. Sechs. Alles Krankheiten, die Ärzte M. in den vergangenen Jahren diagnostiziert haben. Sieben. Acht. Neun. M. scrollt im Dokument weiter nach unten, auf die zweite Seite. Zehn. Elf. Zwölf. Die Liste endet bei der Zahl 17.

In M.'s Familie "wurde es nicht gerne gesehen, wenn man krank war." Der 37-Jährige erinnert sich an seine Jugend. Oft sei er alleine im Behandlungszimmer seines Arztes gesessen. Weil ihm seine Eltern nicht glaubten, dass er krank war. Dass er sich seine Schmerzen eben nicht einbildete. Seine insgesamt fünf Operationen an der Nase, weil er immer wieder eitrige Infekte der oberen und unteren Atemwege hatte - das simulierte M. nicht. Auch nicht seine drei Knie-OPs, der Bandscheibenvorfall, die operative Entfernung eines gutartigen Tumors an seiner Lippe, seine eitrigen Bronchien, sein Rheuma, seine stetig fortschreitende Muskelerkrankung, seine zwei Schlaganfälle, schwere Thrombose, oder die etwa 30 Tabletten, die er jeden Tag wegen all seiner Krankheiten schluckt. Das alles ist Realität.

Als M. 17 Jahre alt war, begann er eine Ausbildung zum Koch. Nach eineinhalb Jahren brach er sie ab. Er hatte Schmerzen im Rücken. Rheuma. Die Beschwerden wurden stärker. Sie wanderten in die Kniegelenke. Schon bald auch in Hand- und Fingergelenke. Arbeiten wurde unmöglich. Vor 16 Jahren dann begann er eine Umschulung. Auch diese musste er wegen seines schlechten Gesundheitszustands unterbrechen. Als es ihm wieder etwas besser ging, schloss er die Ausbildung ab. Dann kam ein Bandscheibenvorfall, es folgten eine Operation und Reha. Aber danach konnte er für einige Zeit arbeiten. Endlich! M. erzählt das nicht ohne Stolz. "Für mich ist das schlimmste: Zu wollen, aber nicht zu können!"

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(Foto: Catherina Hess)

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Mittlerweile kann der 37-Jährige schon seit vielen Jahren nicht mehr arbeiten. Sein Rheuma ist so weit fortgeschritten, dass er seine Hände weder zu einer Faust schließen, noch seine Finger spreizen kann. Er versucht es trotzdem. Seine Finger zittern vor Anstrengung. Trotzdem sind sie weit davon entfernt, gestreckt zu sein. Als "Krallenhand" bezeichnet er selbst diese Haltung. Hinzu kommt eine Muskelerkrankung, er ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Eine genaue Diagnose konnten Ärzte bislang nicht stellen. Nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Können die Mediziner M.'s Symptome keiner Krankheit zuordnen, schwebte in der Vergangenheit der Verdacht im Raum, M. würde seine Schmerzen nur simulieren - man glaubte dem 37-Jährigen nicht, genau wie es früher seine Eltern nicht taten.

M. hat ein Weihnachtsritual, das wohl viele Menschen teilen: In jedem Jahr besorgt er einige Kleinigkeiten, verpackt sie und schenkt sie dann seinen Freunden. Als Dankeschön für all ihre Unterstützung. Dem 37-Jährigen ist diese Geste wichtig. Denn sein soziales Umfeld ist das, was ihm Kraft gibt. Und die schwindet, sagt er. Vor allem seine Muskelerkrankung habe sich in den vergangenen Jahren erheblich verschlechtert. Mittlerweile hat er Schwierigkeiten beim Atmen, schläft mit einem Sauerstoffgerät. Umso wichtiger ist es M., seinen Freunden eine kleine Aufmerksamkeit zu schenken.

Der 37-Jährige aber musste in diesem Jahr umziehen. In seiner Wohnung schimmelte es, auch war sie teils nicht behindertengerecht. Eine pflegerische Betreuung wurde immer mehr notwendig. Dort, wo er jetzt lebt, bekommt er sie. Aber der Umzug kostete Geld, viele seiner alten Möbel konnte M. wegen des Schimmels nicht mitnehmen. Weihnachtsgeschenke kann er sich daher heuer nicht leisten.

© SZ vom 24.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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