Mitten in Ebersberg:Von Höflichkeit und Schmach

Lesezeit: 2 min

So leer wie in pandemischen Zeiten ist die S-Bahn nur noch selten. (Foto: Stephan Rumpf)

In der S-Bahn kann man gut nachdenken. Vor allem dann, wenn man stehen muss.

Glosse von Michaela Pelz, Ebersberg

Auch wenn diese Geschichte in der Bahn spielt, soll es nicht um den ÖPNV gehen. Immerhin müsste man zu Fuß gehen, gäbe es ihn nicht. Und auch wenn der eine Zug plötzlich defekt ist, ein zweiter ausfällt, der dritte dann maximal besetzt und das Verweilen dort daher auch temperaturtechnisch eher, nun, nicht so angenehm ist: Schwamm drüber. Kann alles passieren.

Nur leider würde man jetzt einfach gerne sitzen. Gewicht von den geschwollenen Füßen in den nur am Morgen bequemen Sneakers nehmen und den verkrampften Griff um das silberne Metallrohr in Parkscheinautomatenhöhe lösen können. Immerhin erreicht man dieses besser als früher diese Halteschlaufen, die nicht ganz so hochgewachsenen Menschen fast ein kleines Kirmeserlebnis bescherten, weil bei plötzlicher Beschleunigung und rasanten Kurvenfahrten die Aufhebung der Bodenhaftung nicht ausgeschlossen war.

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Das allerdings begab sich noch zu einer Zeit, als die Nutzung öffentlicher Transportmittel untrennbar verbunden war mit dem Impuls sitzender Personen unter 70, für all jene, die dieses Alter bereits überschritten hatten (oder zumindest so aussahen), sowie für Schwangere und Leute mit kleinen Kindern reflexartig aufzustehen.

Wurde einem selbst diese Höflichkeit zuteil, freute man sich damals allerdings mitnichten, sondern fühlte sich einfach nur alt. Eine ähnliche Regung hätte sich eingestellt, wäre die neue Bedienung in der alten Stammkneipe auf den irrwitzigen Gedanken verfallen, bei der Anrede ein "Sie" zu benutzen.

Jetzt allerdings würde man eine solche Schmach (die des durch einen Aufsteher induzierten Alterungsgefühls, nicht die der Zwangsversiezung, die zum Glück in Bayern selten zu befürchten ist), also den kurzen Moment der Entwürdigung, wirklich gern ertragen, für nur drei Minuten Sitzgenuss.

Weil das aber nicht passiert, mischt sich ein kleiner Gedankenteufel ein und macht völlig irrwitzige Vorschläge. Man könnte ja mal in die Runde rufen: "Alles aufstehen, jetzt ist Reise nach Jerusalem!" Oder, noch besser: Man könnte die untrainierte Stimme erheben, um vielleicht "That's What Friends Are For" zu intonieren - und dann abwarten, ob sich nicht in einem Paul-Potts-Moment alle gerührt von ihren Plätzen erheben, um dann blitzschnell einen freien Sitz zu ergattern. In letzter Sekunde kann frau sich noch zügeln - auch in einem so verzweifelten Augenblick sollte man besser das dann doch eher begrenzte, eigene Gesangstalent nicht überschätzen. Es muss wirklich an den Temperaturen liegen...

Für die Mitreisenden ist es sicher ebenfalls besser, dass am Ende doch noch eine junge Frau aufsteht. Vor allem aber ist in diesem S-Bahn-Text - bis jetzt - kein einziges Mal das Wort "Verspätung" gefallen. Und das ist doch auch was wert.

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