Orientierung in der Krise:Was brauchen wir, um bei Verstand zu bleiben?

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Max Schmidt aus Grafing, Vorsitzender des "Wertebündnis Bayern", spricht über Wissenschaft, Kunst und Corona.

Interview von Ulrich Pfaffenberger

Als Lehrer für Mathe und Physik am Grafinger Gymnasium hat Max Schmidt einigen Generationen von Schülern nahegebracht, dass links und rechts vom Gleichheitszeichen vielleicht unterschiedliche Ziffern und Formeln stehen mögen. Dass aber die Werte auf beiden Seiten die gleichen sind. Jetzt, im Ruhestand, leitet er die Stiftung "Wertebündnis Bayern". Dort sind zahlreiche Partner verbunden - von der Jugendfeuerwehr bis zur Peter-Maffay-Stiftung, von der Islamischen Jugend bis zum Landesverband Israelischer Gemeinden - die Kindern und Jugendlichen über lebensnahe Projekte den Wert von Werten nahebringen. Eine Arbeit, die gerade in der Krise Wirkung zeigt, wie Schmidt im Interview deutlich macht.

Herr Schmidt, Sie sind Vorsitzender der Stiftung "Wertebündnis Bayern". Um was geht es dabei?

Das Wertebündnis Bayern ist ein Zusammenschluss von 194 Organisationen, Vereinen, Verbänden und Stiftungen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Gemeinsam setzen wir Projekte um, die sich der Wertebildung bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen widmen. Dabei ist das Themenspektrum groß - angefangen von politischer Bildung und Demokratieerziehung über die Wertschätzung regionaler und saisonaler Lebensmittel bis hin zur Wertschätzung von Dialekten. Wichtig ist uns, dass Wertebildung ein Bildungsprozess ist und damit Zeit und Handlungsräume braucht. Das heißt, wir vermitteln nicht theoretisch, welche Werte "die richtigen" sind, sondern eröffnen in Projekten die Möglichkeit, für sich selbst zu entdecken, welche Werte einem Orientierung geben und welche man als handlungsleitend für sein eigenes Leben als wichtig empfindet. Methoden, um das ausprobieren zu können, sind zum Beispiel Dilemma-Situationen oder Planspiele und Simulationen.

Wie kommt man als ehemaliger Gymnasiallehrer aus Grafing in diese Rolle?

Als langjähriger Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbands war ich dem Wertebündnis von Anfang an verbunden. Ich habe mich immer schon mit Wertefragen auseinandergesetzt und auch den ein oder anderen Impuls ins Kultusministerium und in die Staatskanzlei gegeben. Der damalige Ministerpräsident hat mich dann zum Gründungsvorstand der 2015 errichteten Stiftung berufen. Eher unwahrscheinlich ist die These, dass meine Berufung mit dem Engagement für meinen persönlichen "Lieblingswert" neunjähriges Gymnasium zusammenhängt...

Die "unmessbaren Werte" - wie geht ein Mathe- und Physiklehrer damit um?

Ich war schon immer der Meinung, dass die sogenannten exakten Wissenschaften und die naturwissenschaftlichen Fächer unglaublich viele Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung aufwerfen. Nehmen Sie nur die Kernenergie, die in ihrem Nutzen oder Schaden für die Menschheit sehr kontrovers diskutiert werden kann. Ich bin überzeugt: Wertefragen haben ihren Platz nicht nur im Religions- und Ethikunterricht, sondern vor allem auch in den MINT-Fächern. Algorithmen allerdings hielt ich als Mathematiker lange Zeit für wertfrei. Da muss ich mich korrigieren: Wenn in den Daten und Fakten, mit denen wir Künstliche Intelligenz füttern, eine bestimmte Weltsicht implizit enthalten ist - zum Beispiel "Frauen können manche Dinge nicht" - dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn entsprechend verzerrte Ergebnisse herauskommen.

Spielen solche Erkenntnisse dann auch in Ihre Arbeit im Wertebündnis hinein?

Unser Projekt "MINT und Werte" setzt genau da an. Es kombiniert Naturwissenschaften mit Fragen gesellschaftlicher Verantwortung, denn solche Themen haben eine hohe Relevanz und beschäftigen auch viele junge Menschen. Denken wir nur an Möglichkeiten der Energieeinsparung und der alternativen Energiegewinnung, an die Erderwärmung und die Folgen des Klimawandels, kurzum: die Frage nach dem "richtigen" Verhalten im Sinne einer nachhaltigen, umweltbewussten und gesunden Lebensweise. Es reicht aber nicht, nur das fachliche Wissen an der Schule vermittelt zu bekommen. Nur wer sich mit Wertefragen auseinandersetzt, kann bewusst gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Das Wertebündnis Bayern bringt darum alle relevanten Akteure zusammen, um von der Lehreraus- und Fortbildung bis hin zur Lehrplangestaltung Neues implementieren zu können.

Haben Menschen nicht manchmal auch Schwierigkeiten, solche Werte zu erkennen - oder zumindest auf einen gemeinsamen Nenner zu verdichten?

In der Theorie bleiben Werte abstrakt und schwer greifbar. Definitionsversuche gibt es viele, dennoch bleibt das Phänomen schwer zu fassen: "Werte sind dauerhaft verinnerlichte Zielmaßstäbe menschlichen Handelns." Bezogen auf konkrete Fragestellungen wird es schon greifbarer: Soll ich einen Mitschüler, der in der Garderobe etwas gestohlen hat, verraten? Loyalität, Freundschaft, Ehrlichkeit, Verantwortung - hier gibt es viel Stoff für die Reflexion über Werte.

Welche Rolle spielt die Arbeit des Wertebündnisses in der Krise?

Eigentlich ist die Arbeit des Bündnisses darauf ausgerichtet, belastbare Werte für den Alltag zu entwickeln. In der Krise bewährt sich dieser Ansatz umso mehr. Wir haben in einem Online-Magazin "Werte in der/aus der Krise" unsere Partnerorganisationen befragt und so ein Kaleidoskop von Gedanken und Ideen aus allen gesellschaftlichen Bereichen zusammengestellt, wie Werte aus der Krise führen. Auch mit den Auswirkungen der Krise auf unsere Gesellschaft und ihre Werte setzen wir uns auseinander, besonders mit Blick auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

Sind Ist das Bündnis bei seiner Kommunikation auch online gegangen - und wie stellt sich dabei der "Wert" der persönlichen Begegnung, der unmittelbaren Interaktion dar?

Wir sind sehr schnell auf digitale Kanäle umgestiegen und bieten inzwischen von der Vollversammlung über Kongresse, Podiumsdiskussionen, Workshops, Buchvorstellungen bis hin zu Multiplikatorenschulungen vieles online an. Dennoch ist die menschliche Begegnung, das direkte Gegenüber, gerade bei Wertebildungsfragen auf Dauer nicht verzichtbar.

Sind lebendige, anschauliche Werte in außergewöhnlichen Situationen wie derzeit besonders wert-voll?

Werte bieten Orientierung. Gerade in der aktuellen Situation der Unsicherheit stellen wir fest, dass diejenigen, die eine gefestigte Persönlichkeit haben, die Vertrauen in die eigene Urteilskompetenz haben, besser durch die Krise kommen und positiver in die Zukunft schauen.

Wird es nach Corona neue Werte geben? Oder alte Werte die neu aufgeladen sind?

Werte haben einerseits etwas Beständiges, ihre jeweilige Priorisierung ist aber gleichzeitig einem ständigen Wandel unterworfen. Die Krise hat uns sicherlich sehr deutlich vor Augen geführt, dass wir nur mit Solidarität, Rücksichtnahme und gemeinsamem Vorgehen Erfolge in der Bekämpfung der Pandemie erzielen können. Hässliche neue Wörter wie "Systemrelevanz" regen uns zum Nachdenken darüber an, was eine Gesellschaft wirklich braucht, um zu funktionieren.

Ein aktives Kulturleben gehört ja auch zu den Werten unserer Gesellschaft. Lässt sich der gegenwärtig entstehende Schaden wieder gutmachen? Was kann das Bündnis dazu beitragen?

Um eine Ausstellung in der White-Box im Werksviertel Mitte zu zitieren: "Ein System ohne Kunst ist nicht relevant." Wir sind davon überzeugt: Kunst und Kultur als nette Freizeitbeschäftigung einzustufen, ist grundfalsch. Eine Gesellschaft braucht die Auseinandersetzung mit grundlegenden philosophischen Fragestellungen, wie sie in Kunst und Kultur geschieht, um bei Verstand zu bleiben. Wir versuchen, dies gemeinsam zu kommunizieren.

Haben Sie zwei, drei Beispiele dafür?

Bei der Langen Nacht der Demokratie im Oktober, die wir als hybride Veranstaltung mit wenigen Akteuren vor Ort und Livestream durchführen mussten, hat ein beeindruckender Film der Münchner Kammerspiel-Schauspielerin Wiebke Puls gezeigt, was Kunst kann: Ihre Liebeserklärung an die Demokratie ist berührend, subtil, wuchtig, wortmächtig, emotional, ambivalent - kurzum großartig! Sie berührt Menschen auf mehr Ebenen als nur der intellektuellen. Auch Kinder und Jugendliche nähern sich existenziellen Wertefragen am einfachsten über künstlerische Wege: Mit dem "Papiertheater" aus Nürnberg haben wir anlässlich unseres Jubiläums im vergangenen Sommer eine "Werteschiffchenaktion" gemacht: Kinder haben ihre wichtigsten Werte auf Papier gemalt, geklebt, geschrieben und daraus Papierschiffchen gebastelt.

© SZ vom 05.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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