SZ-Adventskalender:Nur ein bisschen Schokocreme

Lesezeit: 3 min

Die Kinder der Familie Slodcyk aus Moosach haben einen Behindertenausweis, die Mutter hat Multiple Sklerose. "Ich weiß nicht, wie sie das managen", sagt das Landratsamt. "Es geht schon", sagt die Mutter.

Von Valerie Schönian, Ebersberg

Am liebsten ist Max auf dem Bauernhof. Der 15-Jährige mag es, mit dem Traktor zu fahren, Holz zu hacken, sogar das Stallausmisten gefällt ihm. Und natürlich die Tiere. "Ich weiß, was ich mit ihnen machen soll", sagt er. Sein liebster Vierbeiner ist die Milchkuh. Die kann er melken, füttern. Nur, was das bunte Band an ihrem Fuß bedeutet, kann er sich nicht merken. Schwanger, nicht schwanger, darf gemolken werden oder nicht? Es nervt ihn. Immer muss er jemanden fragen.

Max hat einen Behindertenausweis, in dem "H" steht. "H" für hilflos. Das heißt, er benötigt dauernd und in erheblichem Maße Hilfe. Er kann sich eben an vieles nicht erinnern. Selbst bei alltäglichen Dingen wie Zähneputzen, Anziehen oder Brote schmieren muss er angeleitet werden. "Es ist schon schwer", sagt seine Mutter Monika Slodcyk. Schwer, weil Max' Schwester Martina, 13, auch einen Schwerbehindertenausweis hat. Und Monika Slodcyk könnte es irgendwann genauso gehen.

Alle drei sitzen am Küchentisch in ihrem Haus in Moosach und erzählen aus ihrer Familiengeschichte. Das Haus ist geräumig, hat einen kleinen Hintergarten, liegt aber direkt an der Schnellstraße. Sie leben hier noch mit dem Vater, 45, Fernfahrer und deswegen unregelmäßig zu Hause, der Katze Tommy und dem Meerschweinchen Jojo. Die Kinder sind am Anfang schüchtern, wie das eben so ist in dem Alter. Sie trinkt Krümeltee, er Orangensaft. Mutter Monika übernimmt erst mal das Reden.

Zuerst wollte sie nicht wahrhaben, dass ihre Kinder es schwerer haben als andere, sagt sie. Aber als Max und Martina im Kinderzentrum getestet wurden, offenbarten die Ergebnisse ganz deutlich: Beide sind geistig behindert und brauchen besondere Hilfe - ihr Leben lang. Seitdem gehen Max und Martina auf eine Förderschule in München. Einmal in der Woche kommt außerdem jemand von der Arbeiterwohlfahrt vorbei, um mit den Kindern zu spielen, zu rechnen oder zu lesen. Ansonsten übernimmt Monika Slodcyk die komplette Pflege von Max und Martina.

Leicht haben die drei es nicht - aber sie halten fest zusammen. Max und Martina sind geistig behindert, Mutter Monika hat Multiple Sklerose. (Foto: Christian Endt)

Doch weiß sie nicht, wie lange sie das noch kann. Vor einem Jahr erhielt sie selbst eine einschneidende Diagnose: Multiple Sklerose (MS). Die neurologische Erkrankung breitet sich mit der Zeit immer weiter aus, kann zum Beispiel Gehirn und Rückenmark befallen. Sie kann hinaus gezögert werden, aber sie ist unheilbar. Doch nicht immer führt Multiple Sklerose zu schweren Behinderungen, manche Patienten können bis ans Lebensende gehen.

Momentan lebt die Familie von dem Pflegegeld der drei am Küchentisch Sitzenden und den Einnahmen des Vaters. Viel kommt da nicht zusammen, weiß Christine Klostermann aus dem Landratsamt: "Keine Ahnung, wie die Familie das managt." Monika Slodcyk sagt, es gehe schon. "Andere haben es ja noch schwerer." Aber ja, gibt sie zu, man müsse schon zusehen, was man so einkauft: "Ich drehe jeden Cent um."

Deswegen redet die Familie wahrscheinlich auch von einem Essenskorb, wenn man sie nach ihren Weihnachtswünschen fragt - was der SZ-Adventskalender ihnen ermöglichen möchte. "Mit ganz viel Nutella", betont Martina. Nach einer Weile blüht die 13-Jährige auf, erzählt neben der Schokocreme von ihrer eigentlichen Leidenschaft, den Pferden. "Ohne sie würde ich eingehen." Sie holt stolz eine Urkunde, die sie für ihren Umgang mit den Tieren bekommen hat. Was sie denn werden will? "Pferdeflüsterin", sagt Martina. Warum nicht, entgegnet Mutter Monika und lächelt. Auf der Urkunde ist ein Foto befestigt, auf dem Martina auf einem Pferd sitzt: kerzengerade, offene blonde, Haare, Helm, eine Brille. So, wie ein junges Mädchen eben auf den Vierbeinern Platz nimmt.

"Ihnen sieht man die Behinderung nicht an", sagt Mutter Monika. "Deswegen will es niemand wahrhaben." Das kann Nachteile haben. So würden Martina und Max diskriminiert, weil Menschen sie schlicht für dumm hielten. Anstatt zu akzeptieren, dass man ihnen einige Dinge einfach mehrmals sagen muss.

Auch daheim in Moosach lachen die Kinder aus der Nachbarschaft manchmal über Max. Wenn er zum Beispiel mit seinem Fahrrad einen Anhänger voller Kies durchs Dorf fährt - zu seiner Mutter, damit sie den Gehweg hinten im Garten gemeinsam reparieren können. Aber er lässt sich nicht provozieren, sagt er: "Ich antworte nicht und fahre einfach weiter."

Ob er heute auch noch mal Kies holen soll, fragt Max seine Mutter. "Nein, wir haben genug." Fast sieht der 15-Jährige ein bisschen enttäuscht aus. Er will gebraucht werden. Wenn er von seinen Problemen spricht, guckt er verlegen. Erzählt er aber von seinen Aufgaben, strahlt er. Sein Traumberuf ist Landwirt. "Das schaffst du aber nicht allein", sagt Monika. "Aber vielleicht mit deiner Hilfe", antwortet Max. Monika Slodcyk nickt geistesabwesend. Max strahlt weiter. Er wirkt so motiviert, dass er ganz sicher ist , einmal ein großartiger Landwirt zu werden. Dann muss er eben nachfragen, was die Bändchen an den Füßen der Kühe bedeuten - und wenn schon.

© SZ vom 05.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: