Mitten in Grafing :Evolution im Turbomodus

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Auch wer sich noch so wohlfühlt im Homeoffice, entwickelt irgendwann Lockdown-Symptome. Oder ist das der Beginn einer neuartigen Mutation in Richtung Grottenolm?

Von Anja Blum

Es soll ja Menschen geben, die den Lockdown gar nicht so übel finden. Die, im Gegensatz zum Rest der Menschheit, vielleicht sogar frohlocken angesichts der diversen Einschränkungen, weil sie ein Leben innerhalb ihrer eigenen vier Wände ohnehin am angenehmsten empfinden. Keine Störungen, kein Risiko, keine Kompromisse! So wie die Grottenolme, jene wenig possierlichen Lurche, die in unterirdischen, überfluteten Höhlen leben, diese ein Leben lang nicht verlassen und vermutlich deshalb auch nie ganz aus dem Larvenstadium herauswachsen. Ein Geniestreich der Natur!

Doch Neid gegenüber dieser Spezies ist trotzdem nicht angebracht, denn selbst der grottigste Olm zeigt irgendwann unübersehbare Lockdown-Symptome. Ein adoleszentes Männchen aus Grafing zum Beispiel, gerade mal zwölf Jahre alt, ereilt nach acht Wochen Homeschooling samt Videounterricht ein seltsames Augenleiden. Der Sehapparat schmerzt und brennt, ständiges Zwinkern und Reiben ist die Folge. Sonnenbrille und schwarze Kapuze avancieren zu den Lieblingsaccessoires des Sechstklässlers. Da Schlafmangel als Ursache ausgeschlossen werden kann, geht es irgendwann ab zum Augenarzt. Dem Fachmann genügt ein kurzer Blick auf den jungen Patienten - die Diagnose ist schnell gestellt: Überreizung wegen Trockenheit durch zu viel Auf-den-Bildschirm-Starrens. Der Behandlungsplan scheint ebenfalls einfach: regelmäßig Flüssigkeit zugeben, die Augen öfter schließen und den Blick auch mal in die Ferne schweifen lassen. Stundenlanges Arbeiten am PC, das ist für Kinder eben auf Dauer nichts.

Aber wer weiß, vielleicht werden wir hier auch Zeugen einer ganz außergewöhnlichen Verwandlung, einer neuartigen Mutation zwischen Mensch und, na ja, Grottenolm eben? Diese Lurche nämlich sind von Haus aus praktisch blind, ihre Augen zur Funktionslosigkeit degeneriert und unter der Körperhaut verborgen. Das Licht, das sie fliehen, nehmen diese Tiere über die Haut wahr. Insofern könnte es sein, dass der Grafinger Sechstklässler, sollte seine Schule noch länger geschlossen bleiben, bald ebenfalls nur noch über ein sehr eingeschränktes Sehvermögen verfügt. Evolution im Turbomodus! Grottenolme orientieren sich in ihrem Lebensraum übrigens über einen magnetischen Sinn. Das wird spannend.

© SZ vom 08.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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