Mitten in Ebersberg:Coolsein über Nacht

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Wurde einem neunten Geburtstag früher wenig Beachtung geschenkt, haben sich die Zeiten inzwischen geändert. Neun ist schließlich die Hälfte von 18 - und damit quasi schon die Volljährigkeit

Kolumne von Nathalie Stenger

Vier ist ausreichend, ausreichend ist gut, gut bedeutet eine zwei, und diese fast eine eins. So oder so ähnlich hat man sich das oft in Schulzeiten zurechtgeredet, wenn mal wieder eine tiefrot bekritzelte Mathearbeit auf den Tisch geflattert ist. Ähnlich interpretationsfreudig geht es nun anscheinend in Sachen Geburtstage zu. Der Wechsel von acht auf neun Jahre beispielsweise ist ein ganz großer, wie das Geburtstagskind mit ernster Miene selbst festgestellt hat. Mit neun erreicht man immerhin die Hälfte von 18, und damit quasi schon die Volljährigkeit!

Ein wichtiger Schritt ins Erwachsenenleben also: Keine Frage, jetzt ist man "cool". Getragen werden Sonnenbrille mit neongrünen Farbakzenten und Armband. Ohne einen letzten kritischen Blick in den Spiegel und dem obligatorischen Wisch durchs Haar wird das Haus nicht mehr verlassen. Auch der Musikgeschmack verändert sich. "Ich mag mein altes Ich nicht", ertönt es letztens von der Rückbank, "da habe ich noch Radio gehört." Jetzt sei man reifer und erfreue sich an ausgewählten Rap-Playlisten der älteren Schwester.

Da ist der Schock natürlich riesig, als das geliebte Armband auf einmal spurlos verschwunden ist. Die ganze Coolness ist dahin, und jetzt lässt das Wetter auch noch nach, nicht mal mehr die Sonnenbrille kann das Auftreten aufpolieren. Trauer und Entsetzen sind groß und werfen einen Schatten auf die Geburtstagsparty im Garten. Wie sind denn nun die Gleichaltrigen zu beeindrucken? Der halbe Volljährige versucht es mit Lautstärke und schlechten Witzen und charmiert sich irgendwie durch den Tag. Vielleicht aber nur, weil bereits Abhilfe in Sichtweite ist, schließlich befindet sich unter den Geschenken ein vielversprechendes Armbänder-Selber-Knüpfen-Bastelset. Doch letzteres kommt bei Weitem nicht heran an den Freudenmoment am Abend, als sich der große Kleine ausgelaugt vom vielen Coolsein in das Bett seiner Mama kuschelt und mit der Hand unter das Kopfkissen fährt - und sein Armband darunter hervorzieht.

© SZ vom 18.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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