Ukraine-Hilfe:"Es gab keinen fahrenden Zug, auf den man einfach aufspringen konnte"

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Carola und Christian Schedl aus Markt Schwaben haben die Initiative "Helping Hands for Ukraine" gegründet. Diese sammelt Spenden und unterstützt Kriegsflüchtlinge. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Fahrten an die Grenze, emotionale Situationen, neue Mitbewohner und viele, viele Formulare: Die Markt Schwabener Carola und Christian Schedl haben mit ihrer Hilfsaktion "Helping Hands for Ukraine" schon viel bewirkt - und selbst einiges gelernt.

Von Vera Koschinski, Markt Schwaben

Blaue Abdrücke hatte der Handgriff der jungen Ukrainerin auf dem Arm eines Busfahrers an der polnisch-ukrainischen Grenze hinterlassen. Mit der Initiative aus Markt Schwaben "Helping Hands for Ukraine" hatte er sich auf den Weg nach Przemyśl gemacht, um zusammen mit Mitgründer Christian Schedl Flüchtende Richtung Deutschland zu bringen. Das Mädchen krallte sich in seiner Verzweiflung an den Arm des Mannes. Er müsse sie und ihre Mutter unbedingt mitnehmen, über die Grenze Richtung Deutschland, bat sie. Doch alle Sitze waren belegt, aussichtslos schien für die beiden die Suche nach einer rettenden Mitfahrgelegenheit - bis Christian Schedls erleichternde Nachricht eintraf, dass zwei Passagiere des Busses nicht mitreisen würden. Eine Mitfahrgelegenheit war gefunden.

Mit der Gründung der Hilfsinitiative hat das Ehepaar Schedl aus Markt Schwaben im Frühjahr viele solcher Situationen miterleben müssen. Wie der Rest Europas verfolgten Christian Schedl, 50, und Carola Schedl, 47, die Nachrichten über den Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar. Christian Schedl erzählt, wie die Bilder der in Bunkern verschanzten Kinder eine Initialzündung in ihm ausgelöst hätten. Kurzerhand fuhr er mit seinem Mercedesbus am ersten Wochenende nach Kriegsbeginn an die polnisch-ukrainische Grenze und gelangte früh morgens im polnischen Przemyśl an. Dort wandten sich einige aus einer versammelten Gruppe Flüchtender an ihn, die eine Mitfahrgelegenheit Richtung Deutschland suchten. Mit einem vollbesetzten Bus fuhr er zurück in die Heimat. Bereits an den folgenden Wochenenden meldeten sich weitere Menschen, die entweder ihre Busse zur Verfügung stellten oder sich selbst als Fahrer an den Fahrgemeinschaften beteiligen wollten, um ukrainische Flüchtende aus dem Kriegsgebiet zu holen. Etwa 170 Menschen konnte das sich formende Helfernetzwerk so in Sicherheit bringen.

Kurz nach den ersten Fahrten legte das Ehepaar ein Spendenkonto an und warb zunächst nur im Bekanntenkreis um finanzielle Unterstützung für die Finanzierung und Versorgung der Flüchtenden. "Allein über Nacht kamen jedoch 2000 Euro Spendengelder zusammen", erzählt Schedl.

Fast zwei Monate fuhren Helfer immer wieder ins Grenzgebiet

Während der folgenden Wochen legte sich das anfängliche Chaos an den Grenzen und nahm erste organisierte Strukturen an, erinnert sich Christian Schedl. Beispielsweise wurde an einem polnischen Einkaufszentrum ein Sammelpunkt eingerichtet. Dort wurden die Flüchtenden mit Bussen nach dem Grenzübertritt hingebracht und registriert, sodass nachvollzogen werden konnte, welche Personen mit welchen Verkehrsmitteln in welche Richtung gebracht wurden. "Dennoch ziehen solche Situationen auch oft leider nicht nur die Guten und Helfenden an", sagt Christian Schedl. Denn immer wieder nutzen Sexualstraftäter und Pädophile solche Ausnahmesituationen und warten darauf, dass Eltern im Gedränge ihre Kinder einige Sekunden zu lange aus den Augen verlieren, um diese auf die Toiletten oder an sichtgeschützte Orte zu ziehen und sexuell zu missbrauchen.

Fast zwei Monate lang fuhren Christian Schedl und weitere Busfahrer zwischen Deutschland und den ukrainischen Grenzgebieten hin und her. Währenddessen koordinierte Carola Schedl die Fahrten von Markt Schwaben aus, hielt den Kontakt zwischen Fahrern, Gastfamilien und Flüchtenden aufrecht und organisierte abhängig von der Anzahl der Ankömmlinge auch kurzfristig Unterkünfte. "Für alle Beteiligten war die Situation absolutes Neuland." So beschreibt Carola Schedl die Verunsicherung der ersten Fluchtwochen. Doch bereits nach kurzer Zeit arbeitete das Ehepaar als eingespieltes Team Hand in Hand. "Ohne die gegenseitige Unterstützung wäre die Situation nicht zu stemmen gewesen", betont Christian Schedl.

Denn im Unterschied zu vielen anderen Hilfsaktionen reicht die Unterstützung von "Helping Hands for Ukraine" weit über den Reiseweg hinaus. Während das Ehepaar für die Durchreisenden Flug- und Zugtickets nach Portugal, in die Schweiz oder nach Australien organisierte, unterstützte es auch den Integrationsprozess der Bleibenden. "Einige sind teilweise wirklich nur mit einem Satz Unterwäsche, Elektrogeräten und ein paar Kosmetikartikeln angekommen. Für sie musste das Nötigste aufgetrieben werden."

Die Bürokratie bremste die Hilfsbereitschaft oft aus

Um die existenzsichernden Leistungen zu garantieren, füllten die Helferinnen und Helfer endlose Fragebögen und unübersichtliche Formulare der Gemeinden, Jobcenter und Sozialämter aus. Sie kümmerten sich um Anmeldungen zu Sprachkursen und Schulen. "Vor allem die Bürokratie hat die Hilfsbereitschaft der Menschen ausgebremst, sie sind erschöpft", stellt Carola Schedl rückblickend fest.

Die junge Ukrainerin und ihre Mutter, die noch in letzter Minute einen Sitzplatz in einem der Busse fanden, nahm das Ehepaar bei sich selbst zu Hause auf. "Zwei weitere Personen versorgten wir somit über diese Zeit zusätzlich zu unseren drei Kindern bei uns zu Hause."

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Doch sobald alle Kästchen auf den Zetteln der Ämter abgehakt waren, beobachteten die beiden, dass die Integration gut und vor allem schnell verlief. Viele der Geflüchteten im Landkreis wohnen nicht mehr bei den Gastfamilien, sondern haben einen Job gefunden, mit dem sie sich eine eigene Wohnung finanzieren können. "Sie profitieren schon lange nicht mehr von den Sozialhilfen, sondern zahlen überwiegend selbst mit in die Kassen ein." Auch das junge ukrainische Mädchen, das die Familie Schedl bei sich aufgenommen hatte, wohnt mit ihrer Mutter in einer eigenen Wohnung und besucht seit einiger Zeit das örtliche Gymnasium.

Mit dem fortschreitenden Jahr legte sich die Aufregung und gab dem Ehepaar die Möglichkeit, die getroffenen Entscheidungen zu reflektieren. "Im Nachhinein wäre es wahrscheinlich effektiver gewesen, wenn wir größere Transportbusse von Unternehmen angefordert und so die Transporte und die weitere Versorgung der Leute koordiniert hätten", sagt Carola Schedl. Erst als die Gastfamilien des Landkreises an ihre Grenzen gestoßen waren und die Helfer alle Hände voll zu tun hatten, ließ Christian Schedl vom Bustransport ab. "Andererseits gab es keinen laufenden Prozess, der bereits ausgeklügelt war, keinen fahrenden Zug, auf den man einfach aufspringen konnte. Wir mussten irgendwo anfangen zu helfen", sagt Schedl.

Trotzdem sei die Arbeit der beiden noch nicht getan. Über das geknüpfte Netzwerk wenden sich immer noch regelmäßig Gastfamilien oder ukrainische Geflüchtete aus dem Landkreis im Rahmen der Hilfsinitiative an das Ehepaar, um den Transport weiterer Familienmitglieder oder die Versorgung zurückgebliebener Familienmitglieder in der Ukraine zu organisieren. So unterstützten sie beispielsweise die Mutter einer jungen, in Deutschland tätigen Ukrainerin mit lebensnotwenigen Medikamenten. Die Tabletten gegen die Schilddrüsenkrankheit der betagten Dame waren in der Ukraine nicht mehr erhältlich gewesen und konnten ihr mit Unterstützung des Ehepaars Schedl innerhalb von fünf Tagen übersendet werden. Auch solche Projekte finanziert das Ehepaar aus dem Spendentopf.

Jetzt das Engagement zurückfahren - das kommt für die beiden nicht in Frage

Im Gegensatz zu größeren Hilfsorganisationen könne "Helping Hands for Ukraine" viel flexibler agieren und schnell und spontan auf Veränderungen reagieren, sagen die beiden Initiatoren. Vor einigen Tagen stauten sich Waschmaschinen, Staubsauger und Kettensägen im Hausflur der Familie. Diese sollten auf eine private, kurzfristige Anfrage zu einem Kloster in der Nähe von Lwiw transportiert werden. Dieses beherbergte vor Kriegsbeginn noch knapp 100 Personen, eine Zahl, die seit Kriegsbeginn um das zehnfache gewachsen ist. Lkw werden die Lieferungen bald Richtung Ukraine transportieren.

Doch nicht mehr nur über private Spenden fließen die Gelder auf das Spendenkonto von "Helping Hands for Ukraine". Auch über ein Benefizkonzert flossen vor kurzer Zeit 3000 Euro in die Kassen, mit denen dieses Projekt nun gestemmt werden könne.

"Wir haben diesen Stein selbst losgetreten und jetzt müssen wir ihn auch selbst weiterrollen", sagt Carola Schedl und trotz der Mühen und Anstrengungen, mit denen dieses Vorhaben einhergeht, klingt Zuversicht in ihrer Stimme mit. Denn nicht nur für den ruhigen Schlaf des Ehepaars haben sich die Anstrengungen letztlich gelohnt.

"In den meisten Menschen schlummert bereits eine Hilfsbereitschaft, aber ich denke, dass manchmal einfach ein Anschub, eine Initialzündung notwendig ist. Und bei vielen reichen die über die Displays flimmernden Bilder nicht aus, um selbst aktiv zu werden. Aber wer auch nicht als Erster losfährt, fährt dann doch vielleicht als Zweiter oder Dritter mit", sagt der 50-Jährige. Für ihn habe die Reportage im Fernsehen damals gereicht, um seine Hilfsbereitschaft wachzurütteln. Er weiß aber auch, dass es bei dem ein oder anderen mehr braucht, um tätig zu werden. Vielleicht kann in Markt Schwaben ja auch das Engagement des Ehepaars dieser Anstoß sein.

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