Literatur in der Krise:Bücher-Expertin Ulrike Wolz gibt Lesetipps für Weihnachten

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Ulrike Wolz liest in der Poinger Gemeindebücherei erstmals ohne Publikum, dafür aber vor einer Kamera. Das zweistündige Video, in dem es um die besten Romane des Jahres 2020 geht, kann online kostenlos angesehen werden. (Foto: Veranstalter)

Warum Corona nicht nur das Leben, sondern auch das Lesen beeinflusst, verrät Bücher-Expertin Ulrike Wolz aus Vaterstetten.

Interview von Franziska Langhammer, Vaterstetten

Seit zwanzig Jahren ist Ulrike Wolz rund um Vaterstetten unterwegs, um in Lesungen neue Bücher und Autoren vorzustellen. Und vor allem: Geschichten vorzulesen. Wolz, freie Journalistin und Diplomvolkswirtin, hat sich auf Neuerscheinungen der Belletristik spezialisiert. In Coronazeiten fallen die Veranstaltungen alle flach, deswegen hat sich Ulrike Wolz an eine digitale Lesung gewagt. Ein Interview darüber, warum Hörbücher nichts für sie und warum manche Romane nichts für Männer sind.

SZ: Wie viele Bücher haben Sie dieses Jahr gelesen?

Ulrike Wolz (lacht): Ach du grüne Neune. Bestimmt das Anderthalbfache als sonst. Also bestimmt 50. Ungefähr vier im Monat.

Warum so viel mehr als sonst?

Mein ganzes gesellschaftliches und kulturelles Leben, das normalerweise sehr reich ist, haben wir auf Null heruntergefahren. Mein Mann und ich haben uns ganz zurück gezogen. So haben wir eben auch mehr Zeit zum Lesen.

Wo ist für Sie der ideale Lese-Platz?

Normalerweise lese ich in der S-Bahn. Ich lese auch als Beifahrer sehr viel, wenn wir in der Gegend herumfahren - das ist natürlich jetzt auch auf Null. Außerdem lese ich am liebsten tagsüber. Da sitze ich in einem bequemen Stuhl am Fenster, damit das Licht gut ist.

Was wollen die Menschen derzeit lesen?

Ich stehe in Kontakt mit vielen Lesern, aber auch Buchhandlungen und Bibliothekarinnen. Die Leute wollen gerne was Heiteres, wobei dieser Begriff natürlich sehr weit gefasst ist. Gerade, was Humor betrifft, hat jeder seine eigenen Vorlieben. Es müssen nicht unbedingt Bücher sein, bei denen man laut lacht; aber bei denen, wenn man sie zuschlägt, zumindest ein leises Lächeln über das Gesicht huscht, vielleicht manchmal sogar eine Träne aus dem Auge quillt. Im Grundton also etwas ein bisschen Wärmendes. Das ist vielleicht zu Corona-Zeiten noch ausgeprägter.

Was muss ein solches Buch mitbringen?

Der Plot muss stimmen, die Sprache natürlich und der Spannungsbogen. Nach wie vor sind Familienromane recht beliebt.

Warum ist das so?

Man kann die Konflikte ein bisschen nachvollziehen und für sich auch etwas daraus ziehen. Weil man dem Ganzen nahe ist, weil man die Figuren besser verstehen kann. Auch historische Romane sind häufig als Familienromane angelegt; oder Romanbiografien.

Hat sich das Thema Corona auch schon inhaltlich auf die Belletristik ausgewirkt?

Es gibt schon die ersten Bücher zu dem Thema, gerade von jungen Autoren. Natürlich wird das die Literatur beeinflussen, weil es unser Leben total auf den Kopf stellt. Auf der ganzen Welt.

Muss man 2021 also mit lauter Lock-down-Literatur rechnen?

Wir werden doch mit Infos überflutet. Egal ob im Fernsehen oder auf dem Smartphone. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man darüber noch viele Bücher lesen will. Vielleicht passiert das in zwanzig Jahren.

Sie sind eine Gern-Leserin. Warum wäre es gerade jetzt wichtig, dass Menschen zum Buch greifen?

Man taucht in völlig andere Welten ein. Wenn man wirklich intensiv liest, vergisst man alles um sich herum. Die Einsamkeit kommt einem nicht mehr so groß vor. Wir haben jetzt auch die Chance, uns mit anderen Welten zu befassen. Vieles ist in der Hektik der Tage verloren gegangen, und vielleicht haben wir früher auch eher schnell konsumierbare Bücher gelesen, Zeitschriften und Illustrierte. Jetzt haben wir auch Zeit, uns mit einem Buch zu beschäftigen, das ein bisschen dicker ist. Diese Entschleunigung, die wir alle an uns selbst beobachten können, führt auch dazu, dass wir wieder die Muße haben, uns auf ein Buch einzulassen.

Ihre Lesung findet nun nur online statt. Sehen Sie darin auch Vorteile?

Es kann sein, dass da auch ganz andere Leute reinschnuppern. Meine Tochter etwa kann nie zu meinen Lesungen kommen, weil um halb acht abends ihre Kinder noch gar nicht im Bett sind. Sie hat nun an alle ihre Freundinnen den Link zu meiner Lesung geschickt. Die kann man sich am Abend reinziehen, oder auch unter Tags, in kleinen Häppchen.

Wie ging es Ihnen beim Vorlesen, so ganz ohne Publikum?

Am Anfang war es wirklich komisch. Ich hab gedacht: Wie wird das werden, wenn ich nicht in die Gesichter schauen kann? Wenn ich etwas Spannendes vorlese, ist da kein Mucks zu hören, da könnte eine Stecknadel zu Boden fallen. Und das spüre ich natürlich. Da hatte ich sehr viel Angst davor, dass es mir fehlen würde. Oder auch der Applaus. Oder bei den heiteren Büchern das gemeinsame Lachen; das ist immer sehr wichtig.

Und, sind Ihre Befürchtungen wahr geworden?

Wenn ich vorlese, dann bin ich nicht da, wo ich sitze, sondern wirklich im Buch. Vielleicht spüren das auch die Menschen, die mir zuschauen. Insofern war ich dann doch in der Lage, wieder dieses Gefühl herzustellen. Außerdem waren da noch der Kameramann, der Beleuchter und der Tonmeister bei der Aufzeichnung in der Bücherei Poing dabei. Hinten saßen ausgewählte Bibliothekarinnen, von denen ich ab und zu mal ein unterdrücktes Lachen wahrgenommen habe. Da wusste ich: Ok. Ich bin auf der richtigen Seite.

Welcher Reiz liegt für Sie im Vorlesen?

Die Schönheiten mancher Texte entfalten sich wirklich erst beim Vorlesen. Deswegen sind Hörbücher so beliebt. Da ist man einfach gleich mehr drin. Meine Zuhörer sagen, sie können total abschalten und fühlen sich wie früher, als die Mutter ihnen vorgelesen hat.

Vorlesen und Video - auf den ersten Blick widerspricht sich das. Wäre da ein Hörbuch nicht sinnvoller?

Bei einem Video ist man unmittelbar dabei. Weil ich so im Buch drin bin, ergibt sich meine Gestik wie von selbst, und meine gerunzelte Stirn. Andererseits können beim Hörbuch die Zuhörer nebenbei Bügeln, Autofahren.

Sie persönlich sind also eher kein Hörbuch-Fan?

Nein, nein. Ich kann das einfach nicht. Beim Autofahren ist für mich der Verkehr wichtiger, manchmal höre ich dann ganze Passagen nicht.

In Ihren Empfehlungen teilen Sie auf: Bücher für Männer, Bücher für Frauen. Gibt es da überhaupt einen Unterschied?

Zwei Fragen werden immer wieder an mich herangetragen: Können Sie mir ein heiteres Buch empfehlen? Und: Welches Buch soll ich meinem Mann schenken? In dieser Frage möchte ich auf die Meinung meiner männlichen Zuhörer verweisen, denen es wichtig ist, dass in einen Roman Zeitgeschichte mit eingebaut ist - und dass es männliche Hauptfiguren gibt. Außerdem haben viele Bücher mehrere Zeitebenen, sie springen hin und her. Das ist für Männer schwierig (lacht). Natürlich nicht für alle. Und es heißt auch nicht, dass alle anderen Bücher, die auf meinen Listen stehen, nicht für Männer sind.

Auf welches Buch, das im nächsten Jahr erscheint, freuen Sie sich besonders?

Auf das neue Buch von Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister" im S. Fischer Verlag. Ransmayrs Sprache ist einfach umwerfend. Der Roman handelt von einem Schleusenwärter, der wahrscheinlich für den Tod mehrerer Männer verantwortlich ist. Ich bin sehr gespannt.

Die Lesung, aufgezeichnet in der Gemeindebücherei Poing, kann kostenfrei abgerufen werden unter www.buecherei-poing.de. Das Video dauert zwei Stunden, ist in vier Sequenzen unterteilt und kann bis Mitte Januar abgerufen werden. Die gesamte Liste "Welches Buch für wen?" mit den besten Romanen des Jahres kann per Mail bei Ulrike Wolz angefordert werden. Mehr Infos unter www.literatur-lesung.de. Und übrigens: Viele Buchläden im Landkreis bieten Lieferservice.

© SZ vom 19.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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