Landkreis Ebersberg:Zwischen Nagellack und Baggerecke

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Hanna Dott vom Verein Frauen helfen Frauen . (Foto: privat)

Seit neun Jahren wird der internationale Mädchentag begangen, geändert hat er an der Benachteiligung von Mädchen noch nicht viel. Warum Eltern mit Pippi Langstrumpf gut beraten sind und wie wir Stereotypen entgegen steuern können, erzählt Sozialpädagogin Hanna Dott

Interview von Franziska Langhammer, Ebersberg

Vor allem auf die weltweite Benachteiligung von Mädchen soll der 11. Oktober, der Welt-Mädchentag, aufmerksam machen. Dass sich auch in der Region immer noch traditionelle Muster in Sachen Erziehung einschleichen, weiß Hanna Dott. Sie arbeitet beim Verein Frauen helfen Frauen im Landkreis Ebersberg.

SZ: Was heißt es heute, ein Mädchen zu sein?

Hanna Dott: Nach wie vor sind für die Mädchen auch im Jahr 2020 Lebensrealität und die Zukunftsperspektiven stark geschlechtsspezifisch geprägt. Deswegen ist es auch wichtig, den Internationalen Mädchentag zu haben, um auf diese Benachteiligung aufmerksam zu machen. International ist uns das oft ein bisschen präsenter, wenn man an Bildungsungleichheit denkt, wie wenig Mädchen in die Schule gehen, wie oft sie zwangsverheiratet werden oder von Gewalt betroffen sind.

Wie sieht das hier bei uns aus?

Auch in Deutschland ist die Lebenswelt der Mädchen von geschlechtsspezifischer Benachteiligung ganz stark betroffen, das ist uns aber oft nicht so bewusst. Sie wachsen in einer Gesellschaft auf mit patriarchalen Strukturen, Macht ist männlich dominiert. Bezahlung, Leitungspositionen, die ganze Care-Arbeit sind zu Ungunsten der Frauen verteilt, und diese Sozialisation macht natürlich auch was mit den Mädchen. Es macht was mit dem eigenen Selbstbild: Welche Fähigkeiten schreibe ich mir zu, welche Zukunftsperspektiven erwäge ich für mich?

Hat sich da in den letzten Jahren nichts getan?

Natürlich sind die Rollenbilder theoretisch viel ausdifferenzierter. Trotzdem ist in der Arbeitswelt, im Familienleben, in den Bildungseinrichtungen die Normalität eher noch von Stereotypen geprägt. Bücher oder Filme sind männlich dominiert. Hauptrollen oder das Vorbild im Buch ist ganz oft ein Junge oder ein Mann. Und wenn es eine Frau ist, dann ist sie oft wieder sehr stereotyp dargestellt: lieb, brav, fürsorglich; die nette beste Freundin, die den Jungen unterstützt. In den Kindergärten gibt es die Barbie- und die Bauecke, die auch solche Stereotype verstärkt.

Pippi Langstrumpf wäre also eine gute Lektüre?

(lacht) Zum Beispiel. Oder warum nicht mal ein Buch mit einem gleichgeschlechtlichen Elternpaar? So kann man Kinder von klein an in eine moderne Realität bringen.

Wie ist die Situation in den Schulen?

In den Bildungseinrichtungen gibt es Erzieherinnen und Lehrerinnen als Vorbilder, und damit dominieren in diesem sozialen Sektor wieder die Frauen. In den koedukativen Schulen interessieren sich die Mädchen nicht so sehr für die Mint-Fächer (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik), da wird ihnen von den Lehrern auch oft weniger zugetraut. Man spricht hier auch vom "heimlichen Lehrplan": Man erwartet von den Mädchen, dass sie kompromissbereit sind, und eben nicht so gut in den Mint-Fächern. Das wirkt sich dann natürlich auf die Berufswünsche aus: das Mädchen, das ganz klassisch Ärztin werden möchte oder Bürokauffrau, und der Junge, der ins Ingenieurwesen geht. Das tangiert die Lebenswelt der Mädchen direkt. Und dann haben wir den großen Bereich der Gewalt.

... von dem Mädchen höher betroffen sind als Jungs.

Ungemein höher. Sowohl von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt. Jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben physische oder sexualisierte Gewalt. Bei den Mädchen geht man davon aus, dass jedes vierte bis fünfte Mädchen sexualisierte Gewalt mit oder ohne Körperkontakt bis zu ihrem 16. Lebensjahr erfährt. Für viele Mädchen und jugendliche Mädchen ist es Normalität, sexistische Sprüche zu hören zu bekommen. In jedem Freundeskreis gibt es ein oder mehrere Frauen, die schon mal angefasst wurden, obwohl sie das nicht wollten. Oder Upskirting, das Fotografieren unter den Rock, das jetzt zum Glück strafbar ist - all das gehört für viele zur Normalität. Leider wird den Mädchen und Frauen, die Gewalt erfahren, oft suggeriert: Du bist selbst dran Schuld.

Diese Themen gibt es ja leider schon lange. Welche neuen Herausforderungen haben denn die letzten Jahre gebracht?

Sicherlich den digitalen Bereich, und damit auch die digitale Gewalt. Eine neue Studie zeigt, dass ungefähr 70 Prozent der 15- bis 25-jährigen Frauen bereits in den sozialen Medien beleidigt, bedroht, diskriminiert oder sexuell belästigt wurden. Es werden Dick-Pics versendet, der Freund kontrolliert per GPS seine Freundin - all das eröffnet einen neuen Pulk an Möglichkeiten, Gewalt auszuüben. Ich will Social Media gar nicht verteufeln, sie dienen den Mädchen auch zur Identitätsfindung und zur Kommunikation; aber es fehlen Rahmen und Grenzen. Insbesondere Mädchen müssen hier noch mehr vor Gewalt geschützt werden, denn diese hat auch Auswirkungen auf das reale Leben durch Unsicherheit, Angst und Verhaltensänderungen.

Was können insbesondere Mütter ihren Töchtern mitgeben?

Natürlich ist es ganz wichtig: Was bin ich selbst für ein Vorbild? Ziehe ich selbst meine Grenzen - im familiären oder im Arbeitsbereich? Gerade an den Eltern sehen die Kinder: Haben Mama und Papa eine gleichberechtigte Beziehung? Wie teilen sie sich das Arbeitsleben auf? Oft ist das doch noch traditioneller aufgeteilt, als Frauen und Mütter sich das wünschen. Auch die Väter sind hier gefragt, vielfältige Möglichkeiten anzubieten, etwa beim Spielzeug, bei den Büchern. Oder sich zu hinterfragen: Wie spreche ich mit meinen Töchtern - und auch mit meinen Söhnen? Sag ich: Das ist ein Spielzeug für Jungs, oder: Mach dich bitte nicht so dreckig, du hast das schöne Kleid an. Und wenn der Sohn gerne einen Rock tragen möchte oder Nagellack, warum soll das nicht in Ordnung sein? Hier gilt es, das Selbstbewusstsein zu stärken und zu vermitteln: Du bist gut, so wie du bist. Es ist wichtig, die Kinder nicht in Rollen zu drängen, und auch die Väter in die Verantwortung zu nehmen.

Was lernen die Mädchen in den vom Frauennotruf veranstalteten Selbstbehauptungskursen?

Im Großen und Ganzen sind die Kurse als Prävention vor Gewalt und sexualisierter Gewalt zu sehen. Es werden aber auch ganz konkret kindliche Ärger-Situationen thematisiert, da geht es auch um Selbstbehauptung. Hier sind auch wieder die Eltern gefragt, an die Ressourcen der Mädchen heranzugehen, deren Gefühle ernst zu nehmen. Wenn das Kind zum Beispiel die Tante nicht küssen will, sollte man das respektieren und nicht sagen: "Ach komm schon." Im Kurs wird nicht vor dem fremden Mann gewarnt, der auf den Spielplatz kommt - diese Situation gibt es natürlich auch. Aber die große Gefahr für die Mädchen ist der soziale Nahraum, Familie, Bekannte der Familie, Sportverein. Wichtig ist auch hier zu vermitteln: Vertrau deinen Gefühlen! Wenn es sich unangenehm anfühlt, darfst du auch Grenzen setzen, du darfst laut werden, schreien. Auch das geht gegen das typische Rollenbild vom braven Mädchen. Aber selbst ein Selbstbehauptungskurs bietet keinen hundertprozentigen Schutz. Wenn etwas passiert, sollen die Mädchen wissen, dass sie sich nicht schämen müssen und nicht schuld sind. Traut euch, darüber zu sprechen!

© SZ vom 10.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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