Flüchtlingsunterkünfte:Ärzte im Camp

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Im Medizinischen Besprechungszimmer bei der Turnhalle behandeln Renate Glaser, Heidi Gottschling-Teuschler und Hajo Schneck Flüchtlinge. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Rund um die Unterkünfte in Kirchseeon und Markt Schwaben hat sich eine neue Form der Hilfe entwickelt: Ärzte und Krankenschwestern bieten Flüchtlingen medizinische Beratung direkt an der Basis

Von Anja Blum, Kirchseeon

Eine ganz neue Form, wie Freiwillige Asylsuchenden helfen, hat sich mehr oder weniger gleichzeitig im Umfeld der großen Unterkünfte in Kirchseeon und Markt Schwaben entwickelt: nämlich aus medizinischer Sicht. Hier wie dort stellen Krankenschwestern und Ärzte ihre Kompetenzen zur Verfügung und helfen so, den Geflüchteten die Ankunft in Deutschland zu erleichtern. Kommende Woche ist ein erstes Austauschtreffen geplant, an dem auch der Leiter des Gesundheitsamtes, Hermann Büchner, teilnehmen wird.

Die Sprechstunde findet in einer ehemaligen Lehrerumkleidekabine statt

"Medizinische Basissprechstunde" nennt das Kirchseeoner Team das neue Angebot, wobei die Betonung auf dem Wort "Basis" liegt: "Wir behandeln eigentlich nicht, sondern versuchen, erste Diagnosen zu stellen", erklärt Doktor Renate Glaser aus Glonn. Neben der Turnhalle des Gymnasiums, in einer ehemaligen Lehrerumkleide, hat sich das dreiköpfige Team ein Ärztekammerl eingerichtet. Darin befinden sich ein kleiner Tisch, eine Liege, zwei Spinde, ein Regal mit Verbandsmaterial und ein Waschbecken, an der Tür hängt ein rotes Kreuz.

Hier können die medizinischen Helfer kleine Wunden versorgen, Fieber messen, oder die Lunge abhören, und, vor allem: sich Zeit nehmen zum Reden und Zuhören. "Hier geht es nämlich auch ganz viel um Beratung und Aufklärung, denn die Flüchtlinge können mit vielen Diagnosen gar nichts anfangen", sagt Doktor Hajo Schneck aus Ebersberg, der seit langem bekannt ist für sein soziales Engagement. Immer wieder fliegt der Anästhesist in seiner Freizeit mit der Hilfsorganisation Interplast zu den Ärmsten der Welt, um dort zu operieren.

Nun leistet er abwechselnd mit seiner Kollegin Glaser und unterstützt von der Krankenschwester Heidi Gottschling-Teuschler Hilfe direkt vor Ort. Ein "sehr niederschwelliges Angebot" soll die Basissprechstunde sein, die in Kirchseeon an zwei Nachmittagen pro Woche stattfindet - und bislang sehr gut angenommen wird. "Das kann schon mal drei Stunden dauern, bis alle dran waren", sagt Schneck und lacht. Seit Dezember habe das Team etwa hundert Behandlungen ausgeführt, ergänzt Glaser. Initiator des Projekts war Gottschling-Teuschler aus Kirchseeon, die als Krankenschwester im Rahmen des Helferkreises oft auf medizinische Themen angesprochen wurde. "Da habe ich gemerkt, dass großer Bedarf da ist", erzählt sie.

Genauso erging es Glaser, deren Sohn das Gymnasium besucht, bei einer Infoveranstaltung. "Da kamen viele Sorgen aus diesem Bereich zur Sprache, zum Beispiel wegen Infektionen." Deshalb wollte sie sich selbst ein Bild machen von der Lage im "Camp", wie die Unterkunft bei den Eingeweihten genannt wird, um kompetent Auskunft geben zu können. "Mit Politik hat das hier aber rein gar nichts zu tun", betont Glaser, die nicht nur Ärztin ist, sondern auch SPD-Kreis- und Gemeinderätin. So fügte sich eins zum anderen, man startete mit einem kleinen Team, das nun bald noch Verstärkung bekommt: Laut Glaser wollen drei weitere Ärzte aus dem Landkreis Schichten in Kirchseeon übernehmen.

Bei den Asylbewerbern sind die regelmäßigen Termine bereits bestens bekannt, wer den "Doc" sprechen möchte, meldet sich an bei den Mitarbeitern der Security rund um "Hallenmama Carmen" - für Glaser die "wahren Helden" vor Ort: "Sie bekommen alles mit, sind Tröster, Schlichter, Ermutiger, Koordinatoren." Eine erste Auskunft über Herkunft, Sprache und Alter des Patienten finden die ehrenamtlichen Ärzte dann auf dem sogenannten "White Paper", einem offiziellen Papier, das die Asylbewerber mit in die Sprechstunde bringen.

Sich zu verständigen, sei in der Regel aber kein Problem, sagt Gottschling-Teuschler, entweder auf Englisch oder Deutsch, "was viele der Flüchtlinge schon ganz gut können". Dokumentiert werden die Besprechungen handschriftlich in einem Buch, mit Datum und Bettnummer versehen, so dass bei weiteren Untersuchungen der bisherige Verlauf der Behandlung nachvollzogen werden kann.

In der Turnhalle gab es in den vergangenen Wochen eine Grippewelle

In der Kirchseeoner Turnhalle leben derzeit etwa 170 Menschen verschiedener Nationen, "lauter junge Männer", sagt Schneck. Körperlich geplagt seien diese "wetterbedingt von allem, was wir auch haben", in den vergangenen Wochen sei zum Beispiel auch unter ihnen eine Grippewelle herumgegangen. Ein besonderes Problem der Flüchtlinge hingegen seien Rückenschmerzen: "Da es im Camp aus Gründen des Brandschutzes keine Tische und Stühle geben darf, verbringen sie ihren Alltag größtenteils auf dem Bett - da hätte unsereins auch Kreuzweh", sagt der Arzt.

In der Basissprechstunde liege der Fokus aber auf der Beratung: "Es geht vor allem darum, Sorgen zu besprechen und Ängste zu nehmen", so Glaser. Sei es durch das Übersetzen eines Arztberichts oder durch Aufklärung - über die Bürokratie im Gesundheitswesen etwa, über Krankheitsbilder, Ernährung oder Hygiene. Wobei die Asylbewerber ohnehin sehr gepflegt seien: "Ich glaube, sie achten darauf, zumindest in diesem Bereich ihre Würde zu erhalten", sagt Glaser.

Außerdem sei im Ärztekammerl auch mal Zeit, über alte Befunde zu reden, über verheilte Frakturen etwa, die immer noch schmerzen. Überhaupt wollten die jungen Männer auch "gerne einfach mal betüddelt werden", erzählt Gottschling-Teuschler und lacht. "Ich hab deswegen immer Multivitamintabletten da, über so was freuen sie sich nämlich sehr." Sogar für externe Einsätze ist die Krankenschwester zu haben, begleitet die Asylbewerber bei Bedarf zu niedergelassenen Ärzten oder ins Krankenhaus.

Dorthin nämlich schickt das Team der Basissprechstunde die Flüchtlinge, wenn an irgendeinem Befund auch nur der leiseste Zweifel besteht - meist mit einem Zettel in der Hand, auf dem schon einmal die wichtigsten Symptome notiert sind. "Alleine diese genau herauszufinden, ist manchmal nämlich schon ziemlich zeitaufwendig", erklärt Glaser. Ansonsten aber dient die Basissprechstunde freilich auch dazu, in gewisser Weise auszusortieren, also leichte von schwereren Fällen zu unterscheiden: Wer braucht nur eine Schmerztablette und viel Ruhe anstatt eines Krankenwagens, was sollte man dringend röntgen, wo ist Nähen überflüssig?

Auf diese Weise nämlich können die Ehrenamtlichen Aufwand und Kosten im Gesundheitsbereich erheblich verringern und darüber hinaus die niedergelassenen Ärzte sowie die Kliniken entlasten. "Wir wollen aber auf keinen Fall eine Konkurrenz zu den Praxen sein", betont Glaser.

Der ärztliche Kreisverband steht hinter dem Projekt - wohl auch, weil es die Kosten senkt

Wohl mit aus diesem Grund steht auch der Ärztliche Kreisverband hinter dem Projekt - obwohl es sich, wie Schneck sagt, teils in einer rechtlichen Grauzone bewegt: "Eigentlich darf man niemanden kostenlos behandeln, es sei denn, er ist mittellos." Die Sprechstunde an der Basis ist letztlich eine ständige Gratwanderung - zwischen Bürokratie und Improvisation, zwischen Gesetzen und hippokratischem Eid. "Uns leitet der humanitäre Gedanke", sagt Glaser. "Wir wollen einfach signalisieren: Es ist uns nicht wurscht", sagt Schneck. Und die Freude, die sie dabei empfinden, steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

© SZ vom 12.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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