Für die meisten von uns, so sie protestantische Kirchgänger sind, ist "Jochen Klepper" ein Name, den man nur beiläufig wahrnimmt. Man findet seinen Namen in der Autorenzeile einer ganzen Reihe von Liedern im Evangelischen Gesangbuch, darunter einige, die sich bei den Gläubigen großer Beliebtheit erfreuen. Das rührt vor allem von ihrer zuversichtlichen Grundstimmung: Dass bei allem Elend und Übel in der Welt das Vertrauen auf Gott genügend Grund ist, zuversichtlich und fröhlich zu sein. So lautet denn auch der letzte Eintrag in Kleppers Tagebuch: "Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben."
Dieser Eintrag datiert mit dem 10. Dezember 1942, geschrieben in der Erkenntnis, dass der Abschied vom irdischen Leben der bessere Weg sei, als die Deportation seiner jüdischen Frau Hanna und deren, angeheirateten, Tochter Renate ins KZ. Das Singspiel von Markus Nickel, "Das Tagebuch", beginnt darum auch mit der Szene, in der ein ratloser, aber hilfsbereiter Hans Karbe, Nachbar der Familie, die seit 1931 notierten Gedanken und Gedichte Kleppers in einem Korb auf dem Dachstuhl seines Hauses versteckt, um sie vor dem Auffinden durch die Gestapo zu verbergen. Tage später händigt er sie dann Kleppers Schwester Hildegard aus, die mit Zitaten daraus, ergänzt um ihre eigenen Gefühle und Anmerkungen, die Bedrohung, Bedrücktheit und Not eines gläubigen Menschen in einer Gesellschaft zeigt, die den Respekt vor Gott und den Menschen Schritt für Schritt ablegt.
In der langen Reihe der Veranstaltungen unter dem Titel "Bach & More" gehört das Chorkonzert vom Samstagabend, in dem Matthias Gerstner mit Solisten und dem Jubilate-Chor Zorneding dieses Singspiel aufführte, zu den Anlässen, die keiner mehr aus seinem Gedächtnis streichen kann. So eindringlich, so aufrüttelnd, so lebensnah wie dieses Singspiel kann eine rein musikalisch geprägte Aufführung gar nicht sein. Wie der Nürnberger Kirchenmusiker es verstanden hat, Leben und Lieder Jochen Kleppers in eine musikalische Einheit zu verweben, aus der sich das schlüssige Selbstverständnis dieses Theologen, Journalisten, Dichters, Vaters, Ehemanns und Menschen ergibt - er hat ein erstaunliches Zeitzeugnis geschaffen. Dessen erste Wirkung jene ist, dass man sich aufgefordert fühlt, auch die Geschichten hinter anderen, oft unbedacht dahingesungenen Kirchenliedern zu erkunden. Aber auch die Frage nach den eigenen Glaubensgrundsätzen und dem eigenen Gottvertrauen schließt sich unmittelbar ans Zuhören an, bis hin zu dem Moment, in dem man sich fragt, ob man wenigstens bereit wäre, die Tagebücher eines verfolgten Nachbarn für ein paar Tage zu verstecken, um sie der Vernichtung zu entziehen.
Die Dramaturgie und die Musik des Singspiels fördern aber auch noch ein zweites zutage. Während die Grundstimmung, die Schilderung der Lebensumstände immer düsterer wird - nicht zufällig beginnt und endet die Aufführung mit dem Lied "Die Nacht ist vorgedrungen" - behalten die Melodien und die Klangfarbe der einzelnen Stücke ihren mitunter volksliedhaften Charakter, ihren zuversichtlichen Grundton, ihre schier unfassbare Fröhlichkeit. Unaufdringlich und fein abgestimmt bringen die Sängerinnen und Sänger des Jubilate Chors dies zum Ausdruck: Was sonst im Gottesdienst eine nüchterne Nummer im Liedanzeiger (EG 16) und eine gewohnte Seite mit Noten und Texten, entfaltet eine Wirkung von mitreißender Kraft. Jedes Wort erkennbar artikuliert, die Spannung aus Tonsatz und Syntax mustergültig aufgebaut und aufrechterhalten, wird der Chor zur Stimme des eigenen Gewissens. So stark ist dieser Effekt, dass sich im Lauf des Konzerts, die Trennung zwischen Vortragenden und Zuhörenden auflöst. "Gott wohnt in einem Lichte", "Der du die Zeit in Händen hast", "Freuet euch im Herren alle Wege": Die da vorne singen, was ich fühle.
Der gleiche Grad der Identifikation entsteht auch dort, wo die Instrumente erklingen und die Erzähler sprechen. Die Flöte von Magdalena Hofer, die Geige von Johanna Gerstner, das Klavier von Matthias Gerstner: Sie werden zu den Stimmen von Tochter, Mutter und Vater Klepper, die nicht verstummen wollen angesichts von Rückschlägen und tödlicher Bedrohung, von Verzweiflung und Mühsal. Was das Wort "unbekümmert" bedeutet und an Energie entfaltet, hier bekommt es die Melodie dazu.
Stephan Opitz, der den hilfsbereiten Nachbarn spielt und spricht, merkt man es zu Beginn an, welche Kraft es ihn kostet, die frohe Botschaft vorwegzunehmen, die in der tragischen Geschichte steckt. Vielleicht beschäftigt ihn als Pastor ja auch die Frage, ob Theologie oder Gottvertrauen die größere Kraft entfalten? Ob ein machtfreier Glaube nicht ehrlicher ist als eine machtvolle Kirche? Bei Carolin Schubert, die mit berührender Stimme, aber ohne aufdringliches Pathos die Schwester Hildegard Klepper spielt, die Zusammenhänge erläutert und die ausgewählten Zitate des Tagebuchs zu einer Einheit verbindet, wird die Rolle zur Person. Sie ist nicht nur das Geschwister historischer Personen, sondern auch unseres.
Eine lange Minute des Schweigens erfüllte die Petrikirche nach den letzten Tönen aus dem Tagebuch. Selten mag es einem Publikum so schmerzhaft angekommen sein, bleischwere Hände im - hochverdienten - Applaus zu bewegen. Kepplers Vorbild war es wohl, doch allen die Kraft dazu zu geben.