Cäzilia Hellinger richtet ihre wachen Augen auf das aufgeklappte Fotobuch in ihren Händen. Auf dem Cover ist sie als junge Frau im Alter zwischen 20 und 30 Jahren zu sehen, auf der Innenseite ein Stammbaum ihrer Familie, gezeichnet von der ältesten Urenkelin, ein paar Seiten weiter schwarz-weiß Bilder von der Hochzeit ihrer Eltern, Fotos von Kindern, Enkeln und Urenkeln und eine Zeitleiste, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in das 21. Jahrhundert reicht.
Denn Cäzilia Hellinger wurde bereits 1919 geboren, zu ihrem 100. Geburtstag am vergangenen Sonntag schenkte ihr ihre Familie bei Sonnenschein in einem Ebersberger Landgasthof die vielen Erinnerungen in gebündelter Form, mit dabei auch ihr jüngster Urenkel, der erst drei Tage zuvor auf die Welt gekommen ist. Doch ihre zwei Kinder, ihre fünf Enkel und ihre neun Urenkel sind nicht die einzigen, die diesen besonderen Geburtstag würdigen wollen.
Einen Tag später steht der stellvertretende Ebersberger Bürgermeister Toni Ried (FW) in ihrem Zimmer im Seniorenzentrum Pichlmayr, um ihr einen Blumenstrauß von der Stadt, einen Korb voll verschiedenster Leckereien sowie eine Silbermünze von Ministerpräsident Markus Söder zu überreichen. Cäzilia Hellinger sei die älteste Bürgerin in Ebersberg, sagt Ried - und das mit einem Alter, das ihr Pfarrer im Religionsunterricht niemals für möglich gehalten hat.
"Ich bin froh, dass ich mein Hirn noch gebrauchen kann"
"100 Jahre wird kein Mensch", habe er gesagt, Cäzilia Hellinger hat das genau behalten, als hätte sie gewusst, dass sie eines Tages das Gegenteil beweisen und ihrer Familie diese Anekdote erzählen würde. "Ich bin froh, dass ich mein Hirn noch gebrauchen kann, dass ich nicht dement bin", berichtet sie, überhaupt sei der gestrige Geburtstag ihr schönster gewesen. Ihre Tochter Brigitte Hellinger lächelt und erklärt: "Je älter sie geworden ist, desto gelassener ist sie geworden." An ihrem 100. Geburtstag sei sie überhaupt nicht aufgeregt gewesen, habe sich um nichts mehr kümmern müssen und "alle waren da".
Wie man es denn schaffe 100 Jahre alt zu werden? "Das kommt von selber", sagt die Seniorin lachend, man müsse viel lachen, wenig weinen. Einrichtungsleiter Eric Lehmann stimmt ihr zu: "Das machen Sie ja auch." Als er seine Bewohnerin vor einiger Zeit fragte, wer der "Mitarbeiter des Jahres" sei, gab sie eine Antwort, die ihm in besonderer Erinnerung geblieben sei: "Jeder macht es auf seine Art gut", habe die 100-Jährige gesagt. "Sehr fair", findet Lehmann und Brigitte Hellinger ergänzt zustimmend: "Typisch meine Mutter."
Diese würde sich noch viel mit ihren Freundinnen zum Kaffeeklatsch im Heim treffen, auch wenn ihre Lieblingsbeschäftigung eine andere ist: "Lesen ist ihre Leidenschaft", berichtet Brigitte Hellinger. Zwei bis drei Stunden am Tag lese sie schon, erklärt ihre Mutter daraufhin selbst. Auf ihrem Bett liegt ein dicker Wälzer, auf ihrem Geburtstagstisch ein neu verpacktes Buch von Charlotte Link.
Erst seit drei Jahren wohnt Cäzilia Hellinger hier im Seniorenheim. Sie sitzt in einem Rollstuhl, weil sie sich so sicherer fühle, könnte sich aber immer noch selbst durch die Gegend schieben und anziehen, sagt ihre Tochter und fügt schmunzelnd hinzu: Wäre ihre Mutter nicht vor ein paar Jahren gestürzt, vielleicht hätte sie auch noch ihren 100. Geburtstag zu Hause verbracht.
