Grafing:Kreszentia, die Fünfzehnte

Grafing: Wo geht die Reise nach dem Leben hin? Kreszentia Öhrlein ist kurz vor ihrem 100. Geburstag noch äußerst lebenslustig, und manchmal sehr nachdenklich.

Wo geht die Reise nach dem Leben hin? Kreszentia Öhrlein ist kurz vor ihrem 100. Geburstag noch äußerst lebenslustig, und manchmal sehr nachdenklich.

(Foto: Christian Endt, Fotografie & Lic)

An diesem Donnerstag feiert Kreszentia Öhrlein ihren 100. Geburtstag und gehört damit zu einem erlesenen Zirkel. Denn im Landkreis gibt es nur 14 weitere Menschen, die genauso alt oder älter sind. Dennoch ist die Grafingerin Vorbotin einer neuen Dimension des demografischen Wandels.

Von Johannes Hirschlach, Grafing

An seinem 100. Geburtstag wurde es Allan Karlsson zu langweilig. Er schlüpfte in seine Pantoffeln und hüpfte aus dem Fenster seines Erdgeschosszimmers in einem schwedischen Altersheim. Was folgte, war eine abenteuerliche Tour durch Skandinavien. "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand", der Bestseller von Jonas Jonasson, handelt von einem fidelen Senior, der es mit seinem Alter nicht so genau nimmt.

Kreszentia Öhrlein gehört seit ihrem Geburtstag an diesem Donnerstag auch dem Kreis der Hundertjährigen an. Aus dem Fenster zu springen und davonzulaufen, daran hat die Grafingerin aber noch nie gedacht. "Höchstens zum Urlaub machen in den Bergen", sagt sie und lacht herzlich. Öhrlein lacht gerne, viel und glockenhell. "Des is mei Temperament", sagt sie. Immer sei sie lebhaft gewesen, schon in ihrer Kindheit im Lengenfeld bei Landsberg, wo sie bei ihrer Großmutter aufwuchs.

Auch heute hat sie jederzeit einen Spruch parat. Öhrlein stemmt sich aus ihrem Fernsehsessel in der Stube ihrer Wohnung, ihre faltigen Hände auf einen Gehstock gestützt, den sie wegen ihrer Körpergröße auf die kürzeste Länge gestellt hat. Dass sie mal die 100 Lebensjahre erreichen würde, habe sie nie für möglich gehalten. "Was hab i an mir, dass i so alt werd?", fragt sie sich.

Im Landkreis leben jetzt mindestens zehn Frauen die 100 oder älter sind

Tatsächlich ist Öhrlein mit ihrem hohen Alter in der Region Teil einer sehr kleinen Gesellschaft. Sie eingerechnet leben im Landkreis nun 15 Menschen, die 100 oder älter sind, zehn davon sind Frauen, zwei sind Männer, bei den drei Vaterstettenern über 100 ließ sich das Geschlecht auf Nachfrage in der Gemeinde nicht ermitteln. Bei einer Gesamteinwohnerzahl von 137 000 sind das im Landkreis gerade einmal 0,011 Prozent.

Dennoch: Die Lebenserwartung der Deutschen nimmt nach wie vor zu. Lag diese bei Neugeborenen 2004 noch bei 76 Jahren für Männer und 82 für Frauen, waren es zehn Jahre später bereits 78 beziehungsweise 83. Bayerische Frauen werden demnach im Schnitt sogar 83,5 Jahre alt. Einer Vorausberechnung des statistischen Bundesamtes zufolge könnte die Durchschnitts-Lebenserwartung für Frauen bis 2060 die 90-Jahre-Marke knacken. Damit steigt auch die Zahl der Hundertjährigen.

"Früher ham's immer g'sagt: 'So alt wird koa Sau'", sagt Kreszentia Öhrlein. Dabei fühle sie sich gar nicht so alt. Eher 30 Jahre jünger. Fit hielt sich die Rentnerin schon früher. Noch als Jugendliche schuftete sie als Dienstmagd bei einer Münchner Familie, später rackerte sie als Bedienung im Pschorr-Bräuhaus, eine schweißtreibende Arbeit. Heute geht Öhrlein, die im Ortsteil Oberelkofen in einem gemütlichen Haus mit Ausblick auf die Berge lebt, montags zum Singen. Geraucht habe sie nie, "net mal probiert", sagt Öhrlein. Zu Fuß ist sie noch gut unterwegs, ein Rollator hilft beim Spazierengehen. Treppensteigen ist für die Hundertjährige kein Problem.

Viele Hundertjährige sind erstaunlich fit

Damit hat Öhrlein großes Glück. Paradoxerweise sei das in ihrem Alter aber keine Seltenheit, sagt Raymund Hahn. Der Altersmediziner war bis 2010 Chefarzt der Geriatrie an der Klinik Haag, seitdem hat er diese Position an den Kreiskliniken Altötting-Burghausen. "Viele Menschen in diesem Alter sind erstaunlich fit", sagt er, "denn wer schon mit 70 kränkelt, erlebt die 100 einfach nicht." So blieben am Ende vor allem diejenigen übrig, die sich schon früher durch eine gute körperliche und geistige Konstitution ausgezeichnet hätten.

Wer sich sein Leben lang ausgewogen ernährt habe, gute familiäre Kontakte pflege und sich ausreichend bewege, habe gute Chancen, ein hohes Alter zu erreichen. Kritisch seien vor allem vaskuläre Erkrankungen der Blutgefäße. "Das verstärkt das Demenz- und Herzinfarktrisiko", weiß Hahn. Dabei helfe aber mittlerweile der medizinische Fortschritt, sagt der Mediziner: "Man muss es nur frühzeitig entschärfen."

Allen Statistiken und Errungenschaften zum Trotz: "Irgendwo ist da eine natürliche Grenze", sagt Hahn. Immerhin sei die biologische Daseinsberechtigung des Menschen, sich zu vermehren, meist mit 50 Jahren erfüllt. "Wir sind für ein so langes Leben eigentlich nicht konstruiert", attestiert er, auch wenn in Zukunft durchaus jeder Zweite ein Alter von über 100 erreichen könne. Frauen sind in diesem Punkt privilegiert. "Es scheint, als hätten Männer einen kleinen genetischen Nachteil", sagt Hahn.

Öhrleins Geheimnis: Gelassenheit

Das hat Kreszentia Öhrlein selbst erfahren müssen. Auf einem hölzernen Stellbrett steht ein Foto ihres Mannes. Öhrlein erzählt von ihrem Richard, ein munterer Ausdruck liegt in ihrer Mimik, wenn sie in gemeinsamen Erinnerungen kramt. Sehr vermisse sie ihn seit seinem Tod. Wann genau das war, fällt ihr schwer zu sagen. Wer 100 Jahre Erinnerungen im Gedächtnis hat, kann nicht alles auf Knopfdruck abrufen.

Ein Anflug tiefer Traurigkeit durchbricht das glückliche Gesicht. Tränen glitzern in den wasserblauen Augen. "Ob's überhaupt einen Himmel gibt?", fragt sie, den Blick auf das Bild gerichtet. "Manchmal wenn i im Bett lieg", sagt Öhrlein, "dann denk i mir, wie es wär, einfach nimmer aufzuwachen". So bleibt sie noch eine Weile in Gedanken versunken sitzen.

Eine Mücke surrt vorbei. Öhrlein greift flink nach einer Fliegenklatsche und macht dem Brummer den Garaus. "Ja, zumindest die Fliegen, die leben bei mir net lang", sagt sie. Da ist sie wieder: die aufgeweckte, lebenslustige Seniorin. "I hab immer einfach g'lebt", sagt sie, einfach damit arrangiert, "wie's grad gekommen is". Eine Flucht aus dem Fenster gehöre für sie definitiv nicht zum weiteren Plan. Vielleicht liegt auch in Öhrleins fröhlicher Gelassenheit das Geheimnis eines langen Lebens.

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