Grafinger Verein:Gelebte Tradition

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Die "Grafinger Bürgerinnen" möchten das Brauchtum rund um die historische Biedermeiertracht bewahren

Von Michaela Pelz, Grafing

"Wo ich den gefunden habe? Das weiß ich beim besten Willen nicht mehr", sagt Catrin Braeuer-Achatz, als man sie auf den Paisley-Schal in der Auslage anspricht. "Kann gut sein, dass ich ihn in Paris oder der Normandie gefunden habe, vielleicht aber auch in Niederbayern. Fest steht nur sein Alter: garantiert mehr als 150 Jahre!" Wie ihre Vereinskolleginnen begibt sich die Buchhändlerin regelmäßig auf die Suche nach Originalzubehör der typischen Biedermeiertracht aus den Jahren 1830/1840, in der die Mitglieder der "Grafinger Bürgerinnen" bei allerlei Gelegenheiten auftreten. Höhepunkt ist die heimische Leonardifahrt, außerdem dürfen sie jedes zweite Jahr auf einem nach historischem Modell nachgebauten Festwagen beim Oktoberfest mitfahren - und zwar mit ihren ebenfalls in Tracht gekleideten Kindern.

In die Restaurierung von prachtvollen Stücken wie der "Riegelhaube" stecken die "Grafinger Bürgerinnen" viel Liebe und Zeit. (Foto: Christian Endt)

Die historischen Gewänder, ob nun in Privatbesitz oder aber Teil des umfangreichen Fundus, sind Dreh- und Angelpunkt des Vereins, der seinen Zweck darin sieht, die Tradition zu bewahren und das damit verbundene Wissen und Können weiterzugeben. Da sich die auf Flohmärkten und in Antiquariaten gefundenen Stücke oft "in sehr desolatem Zustand" befinden, müssen sie in mühevoller Kleinarbeit restauriert werden. "Das in Gemeinschaft mit den anderen zu tun und dabei den Jüngeren zu zeigen, wie es geht, macht ungeheuer viel Spaß", schwärmt Braeuer-Achatz, die schon gar nicht mehr sagen kann, wie viel Stunden Arbeit die Frauen etwa in die Reparatur von diversen "Jungfern-Kranl" gesteckt haben. Die Herstellung dieses von ledigen Mädchen getragenen Krönchens aus Perlen, feinstem mit Metalldraht umwickeltem Garn, Pailletten und farbigen Glassteinen erfordert "leicht bis zu 200 Stunden Arbeit". Selbiges gilt für die "Riegelhaube" der verheirateten Frauen. Diese dient mit ihrer Goldstickerei als Blickfang auf Sabine Roidls Leonardi-Bild und muss daher natürlich ebenfalls ins Schaufenster.

Ein Blickfang fürs Haar ist zum Beispiel das "Kranerl". (Foto: Christian Endt)

Auch für Catrin Braeuer-Achatz hat der am Hinterkopf über einem Knoten ("den man zur Not mit einem Lockenwickler simulierte") getragene Kopfschmuck eine ganz besondere Bedeutung. Denn eine Riegelhaube - Geschenk einer alten Grafingerin ohne weibliche Nachkommen, die das kostbare Stück in guten Händen wissen wollte - bildete den Grundstock ihrer mittlerweile stattlichen Sammlung aus Kopfbedeckungen, Miedern, dazu passenden verzierten Ketten ("Gschnürl") und eben Paisley-Schals. Die farbenfrohen Textilien (oft im Grundton rot, orange oder gelb) haben zwar ihren Ursprung in Kaschmir, wurden aber dann vielfach in Schottland nachgewebt - daher der Name. Erst hüllten sich nur Adlige in die Wollumhänge, dann Großbürger und schließlich auch Bäuerinnen. Oft gab es die Tücher als Geschenk zur Verlobung. Später trug man dann die Kinder darin eingewickelt zur Taufe in die Kirche. "Da sieht man, wie länderübergreifend die damalige Mode schon war," sagt die Grafinger Bürgerin. Und weil die 57-Jährige das Brauchtum nicht nur pflegt, sondern auch lebt, tragen sie und ihre Verwandten die Stücke der Sammlung auch bei privaten Anlässen. "Ein Paisleytuch passt bei einem Festakt perfekt zum schwarzen Kleid; die Mieder überlasse ich allerdings lieber meinen Schwiegertöchtern", lacht die Buchhändlerin und wirft einen letzten Blick auf das Leonhardi-Arrangement im Fenster.

© SZ vom 24.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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