Tschernobyl-Folgen:Wildschweine, strahlend bis heute

Lesezeit: 3 min

Manche Wildschweine im Landkreis Ebersberg sind auch 30 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe mit Cäsium belastet. Wer sie erlegt, kann böse überrascht werden.

Von Sebastian Hartinger, Landkreis

Hermann Büchner, Chef des Ebersberger Gesundheitsamtes, kann sich gut erinnern, wie es war, als die Nachrichten von der Atomkatastrophe in Tschernobyl das Leben bestimmten. Eine "äußerst schwierige Lage" sei das gewesen. Er hatte damals, 1986, gerade erst in der Behörde angefangen. Die elektronische Kommunikation sei noch nicht so gut gewesen. "Meist haben wir die Information aus den Medien bekommen, direkte Infos von oben gab es nicht." Und der "Informationsfluss" sei total zusammengebrochen", der vielen Anfragen wegen.

Er selbst hatte damals Kleinkinder, auch er habe sie in dieser Zeit nicht mehr im Sandkasten spielen lassen, ihnen keine Milch gegeben. "Im Nachhinein kann man sagen, dass wir mit den Maßnahmen damals überreagiert haben, aber als Vater war das schwer zu entscheiden."

Der ehemalige Radioökologe Heinz Müller aus Baldham hält das Wegschütten von Milch, was auch viele Landkreisbürger gemacht haben, für "nicht überzogen". Auf Milch zu verzichten sei jedenfalls ein Risiko weniger gewesen. Die derzeitige Situation im Landkreis sieht er gelassen. "Manche Dinge sind sicherlich noch messbar, für den Menschen aber nicht relevant." Bei Wildschweinen werden immer wieder höhere Werte gefunden, aber "alle Geschossenen werden überprüft". 600 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) stelle hier den Grenzwert dar.

30 Jahre Tschernobyl
:Aufräumen in der Hölle von Tschernobyl

30 Jahre nach der Katastrophe schlummern in Reaktor 4 noch immer enorme Mengen radioaktiven Materials - und 3000 Arbeiter kommen täglich auf das Gelände.

Von Patrick Illinger

"Für Milch und bestimmte Milcherzeugnisse sowie für Lebensmittel für die Ernährung speziell von Säuglingen während der ersten Lebensmonate gilt der Wert von 370 Bq/kg", sagt Aleksander Szumilas, Pressesprecher beim bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit in Oberschleißheim. Dass vor allem bei Wildschweinen erhöhte radioaktive Werte gemessen werden, liegt an ihrer Ernährung. Sie durchwühlen bei der Nahrungssuche den Boden nach essbaren Wurzeln, Schnecken oder Wildpilzen. Und die können immer noch radioaktiv verseucht sein.

"Für die Höhe der Belastung mit Radiocäsium sind folgende vier Faktoren ausschlaggebend", erklärt Szumilas. "Die Pilzsorte, die lokale Bodenkontamination, die lange Halbwertszeit des Cäsiums von 30 Jahren und der Umstand, dass in den humusreichen Waldböden, anders als bei bewirtschafteten Ackerböden, das deponierte Cäsium in den oberen Schichten für das Pilzmyzel leicht verfügbar ist." Beim Messen der Belastungswerte müsse vor allem beachtet werden, dass der Grenzwert von 600 Bq/kg sich bei Pilzen auf das Gesamtgewicht bezieht, und nicht auf die Trockenmasse. Pilze verlören beim Trocknen etwa 90 Prozent ihres ursprünglichen Gewichts. "Daher wird der ermittelte Radiocäsiumwert der getrockneten Pilze durch den Korrekturfaktor zehn dividiert", berichtet er. Es gebe aber auch Unterschiede zwischen den einzelnen Pilzsorten. "Maronenröhrlinge weisen im Durchschnitt eine höhere Radiocäsiumbelastung im Vergleich zu Steinpilzen und Pfifferlingen auf".

Damit radioaktiv verstrahltes Fleisch nicht in Metzgereien landet, müssen Jäger jedes geschossene Wildtier überprüfen. "Eine 500 Gramm Fleischprobe wird zu der anerkannten Messstelle in Anzing geschickt", erklärt Heinz Utschig, Forstbetriebsleiter bei den bayerischen Staatsforsten Wasserburg. Von den paar hundert Schweinen, die jedes Jahr im Landkreis Ebersberg geschossen werden, sind seinen Worten zufolge zehn bis 30 Prozent verstrahlt. "Dies hängt von der Jahreszeit und dem Futterangebot ab", erklärt er. Werden sie positiv auf Cäsium getestet, wird das Fleisch fachgerecht entsorgt. "Freie Jäger sind verpflichtet, die geschossenen Schweine zu überprüfen, außer bei Eigenbedarf." Sollten Jäger ein verstrahltes Tier erlegen, erhalten sie eine Entschädigung. Die liege höher als der Erlös, den sie für den Verkauf eines gesunden Wildschweins bekommen würden, erklärt Forstbetriebsleiter Utschig. Sollte ein verseuchtes Tier durch einen Jäger in den Handel gelangen, muss dieser mit einer Strafe rechnen.

SZ-Karte; Quelle: Vereinte Nationen/UNSCEAR (Foto: N/A)

Die Anzahl der radioaktiv verseuchten Tiere hängt von ihrem Lebensumfeld ab. Die Tiere seien im Ebersberger Forst stärker belastet, da ihnen keine offenen Felder zur Verfügung stehen, erläutert Utschig. Sie fressen hauptsächlich vom Waldboden, und nehmen dadurch unter anderem den Hirschtrüffel zu sich, der hohe Mengen an Cäsium speichert. Ackerböden dagegen werden regelmäßig umgepflügt und so können die Pflanzen das Radionuklid nicht aufnehmen. Im unbearbeiteten Waldboden bleibt der größte Teil des Caesiums in der Humusauflage unberührt, und wird von Pflanzen und Pilzen aufgenommen. Dies stelle aber keinen großen Grund zur Besorgnis dar, sagt Utschig. Wenn man ein mit 3000 Becquerel belastetes Stück Fleisch isst, "ist man der gleichen Strahlenbelastung ausgesetzt wie auf einem Flug nach Gran Canaria." Wenn nicht täglich belastetes Fleisch gegessen werde, sei das also nicht so schlimm.

Die Folgen für den Landkreis sind kaum noch zu spüren. Die Meldungen von Pannen in verschiedenen Atomkraftwerken in unseren Nachbarländern, wie im Kernkraftwerk Fessenheim an der Grenze zu Baden-Württemberg, oder in den beiden belgischen Atomkraftwerken Doel 3 und Tihange 2, scheinen sich aber zu häufen. Die Gefahr die uns bei einem Reaktorunglück in Frankreich oder Belgien drohen könnte, hält Radioökologe Müller jedoch für gering. "Rein theoretisch, bei einem großen Unfall, könnte bei ungünstiger Wetterlage sicherlich etwas zu uns kommen. Ich mache mir aber jetzt keine großen Sorgen."

© SZ vom 23.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusFolgen der Kernschmelze
:Wie viele Menschen starben beim Tschernobyl-Unglück?

Ein paar Dutzend oder doch Tausende? Noch immer streiten Wissenschaftler über die tatsächlichen Folgen des ersten großen Atomunfalls in Europa. Es gibt sehr unterschiedliche Opferzahlen.

Von Marlene Weiß

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: