Ebersberg:"Geschichte ist identitätsstiftend"

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Kreisarchivar Bernhard Schäfer über das Vergessen,die NS-Zeit im Landkreis und die Zukunft der Vergangenheit.

Ronen Steinke

Schon als Bub war Bernhard Schäfer fasziniert von alten Burgen. Nach dem Besuch des Gymnasiums Grafing studierte er Geschichte an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, schloss mit einer Magisterarbeit über den Münchner Königsplatz in der Zeit des Nationalsozialismus ab und arbeitete mehrere Jahre lang als selbstständiger Historiker - bis er einmal den Bürgermeister Grafings, Rudolf Heiler, auf den damals erbärmlichen Zustand des Gemeindearchivs aufmerksam machte. So bekam Schäfer den Job, es besser zu machen. Heute ist der 44 Jahre alte Schäfer nicht nur Gemeindearchivar in Grafing, sondern auch Kreisarchivar.

Herr Schäfer, sind Sie vergesslich?

An sich habe ich schon ein geschultes Gedächtnis.

Nie den Autoschlüssel verlegt?

So groß war der Rausch nie.

Darf ein Historiker denn vergesslich sein?

Wenn das Vergessen nicht wäre, dann bräuchte man die Geschichtsschreibung nicht - uns geht es ja um das Gegenteil, um das Erinnern. Es ist freilich schon so, dass ein gesundes Vergessen anthropologisch wichtig ist.

Aber?

Aber das natürliche Vergessen ist ein willkürlicher Prozess. Das ist ein Problem. Hinzu kommt, dass manches aus einer Schutzhaltung heraus vergessen wird. Wir Historiker haben die Aufgabe, bewusst gegenzusteuern und zu selektieren: Was ist so wichtig, dass wir es dem Vergessen nicht anheim geben wollen?

Wie treffen Sie als Archivar die Auswahl, was Sie zur Erinnerung aufheben?

Ich gehe sicher anders heran als vielleicht ein Verwaltungsmensch. Mich interessiert nicht, ob von einem Vorgang noch Rechtswirkungen ausgehen, sondern, ob etwas für Menschen in der ferneren Zukunft interessant sein wird. Auf Hundesteuerbelege trifft das eher nicht zu.

Was würde fehlen, wenn ein Ort sein Gedächtnis verlöre?

Dann würde die Möglichkeit für die Bevölkerung, sich mit dem eigenen Lebensraum zu identifizieren, massiv schwinden. Geschichte ist identitätsstiftend. Für Stolz, Scham oder Heimatliebe genauso wie für Freundschaften oder Rivalitäten.

Wie weit reicht im Landkreis das kollektive Gedächtnis zurück?

Am längsten reicht es in Aßling zurück. Im Jahr 765 wird dort der Ort Holzen erstmals urkundlich erwähnt. In den Aufzeichnungen des Freisinger Bistums tauchen dann nach und nach noch weitere Orte auf, bis 934 auch die Aufzeichnungen des Klosters Ebersberg einsetzen. Erst vom zwölften Jahrhundert an legen auch Adelige sporadisch Archive an. Richtige Gemeindearchive gibt es aber erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts - und von dieser Zeit an wird unser Gedächtnis im Landkreis dann schnell dichter.

Sie haben eingangs das Vergessen aus einer Schutzhaltung angesprochen. Verzichten Menschen damit bewusst auf ein Stück Identität?

Es ist anthropologisch gesehen normal, dass man Unangenehmes verdrängt. Sonst würde ja kein Mensch mehr in ein Bayernspiel gehen!

Aber dient das Vergessen auch dazu, das Selbstbild zu schonen?

Sicher. Lange Zeit hat man zum Beispiel die Zeit des Nationalsozialismus verdrängt. Heute ist es ja eher so, dass sich manche besonders hervortun mit der Aufarbeitung - wenn ich zum Beispiel an die Aberkennung von nicht mehr existenten Ehrenbürgerwürden für Hitler im Landkreis denke. Für Verdrängung besteht heute längst kein Grund mehr, es ist ja nicht so, als ob sich die Schuld früherer Generationen genetisch tradieren würde.

Erleben Sie denn keine Verdrängung mehr? Sie haben 2005 den Auftrag übernommen, die NS-Geschichte des Landkreises systematisch zu erforschen.

Eigentlich hält es sich in Grenzen. Bei Gesprächen mit Leuten habe ich keine Schwierigkeiten gehabt.

Ihre Recherchen dauern sechs Jahre an. Worin besteht die größte Schwierigkeit?

Die liegt weniger in der Verschwiegenheit der heutigen Bevölkerung als in der schriftlichen Quellenlage. Nach dem Krieg hat man sich bemüht, es späteren Historikern schwer zu machen. Wenn die Berichte aus dem Landratsamt von 1933 bis 1945 im Brauereiofen verbrannt werden, dann sind die eben weg. Ähnlich ist es bei den Berichten der Gendarmerie: Die hören 1936 auf.

Das heißt, das Ortsgedächtnis ist hier wirklich teils gelöscht worden?

Ja. Letztlich heiße ich nicht Karl-Theodor zu Guttenberg, ich kann von niemandem etwas abschreiben, weil es zur NS-Geschichte im Landkreis bislang schlicht nichts gibt.

Wann wird das Ergebnis Ihrer Forschung denn erscheinen?

Das wird im kommenden Jahr der Fall sein. Etwa 200 Seiten sind es geworden.

Geben Sie uns eine Vorschau? Wie stark waren die Nationalsozialisten im Landkreis vertreten?

Es gibt viele Gebiete etwa im Fränkischen, die deutlich stärker nationalsozialistisch durchsetzt waren als der eher agrarisch-katholisch geprägte Landkreis Ebersberg. Hier hat der verbreitete Konservatismus die Anziehungskraft der nationalsozialistischen Bewegung zumindest etwas gedämpft. Hier haben katholische Jugendorganisationen lange ihre Bindungskraft beibehalten, als andernorts die Jugend bereits mehrheitlich zu nationalsozialistischen Gruppen wie der Hitler-Jugend oder dem Bund Deutscher Mädel (BDM) abgewandert war. Aber das ist natürlich nur ein relativer Befund. Dass die Nationalsozialisten auch hier letztlich starken Rückhalt hatten, möchte ich nicht abstreiten.

Andererseits konnten nach dem Krieg einige NS-Funktionsträger im Landkreis in einflussreichen Positionen bleiben.

Ja. In der Gemeinde Baiern etwa blieb der Bürgermeister nach dem Krieg im Amt. Der ist aber ein Beispiel für jene Lokalpolitiker, die nur aus Opportunismus das Parteibuch der NSDAP erworben hatten. Neben der Schicht der aggressiven Überzeugungstäter, welche die allermeisten politischen Ämter besetzte, gab es auch das. Ein zweites Beispiel ist Frauenneuharting, wo der Bürgermeister aus der NS-Zeit nach dem Krieg nach wenigen Jahren Pause in freier Wahl wieder gewählt wurde. Diese Wahl legt es nahe, dass er sich nicht durch Brutalitäten unmöglich gemacht hatte.

Haben Sie auch Erkenntnisse gesammelt zu Verbrechen, die im Landkreis begangen wurden?

Ja. Vielleicht am wichtigsten: Aus Kirchseeon und Markt Schwaben, wo es ein starkes Arbeitermilieu gab, sind gleich 1933 viele Kommunisten ins Konzentrationslager nach Dachau verbracht worden.

Gab es eine jüdische Bevölkerung im Landkreis?

Nur vier Personen. Die Kunstmalerin Martha Pilliet, deren Gatte im Ersten Weltkrieg gefallen war und heute in der Ebersberger Heldenallee verewigt ist, wurde in Milbertshofen in ein Sammellager gepfercht, um zusammen mit anderen Juden nach Kaunas in Litauen verbracht zu werden. Dort wurden ausnahmslos alle erschossen. Martha Pilliet hat diesem Schicksal aber vorgegriffen und sich bereits in Milbertshofen mit Schlaftabletten vergiftet. Die Hausfrau Pauline Malterer ist 1943 in Theresienstadt zu Tode gekommen. Der Viehhändler Alfons Pressburger ist 1933 in Grafing bei einer Prügelei gestorben. Und sein Cousin Milton Pressburger ist 1936 aus Grafing emigriert. 1945 kam er wieder.

Als Kreisarchivar haben Sie die Aufgabe, auszuwählen, was künftige Generationen an unserer heutigen Zeit interessieren könnte. Wie werden die Menschen in hundert Jahren auf uns blicken?

Die heutige Zeit wird wahrscheinlich vor allem für Strukturwandel stehen. Der Bevölkerungsschwerpunkt im Landkreis verlagert sich nach Norden und Westen. Die Großstadt München strahlt durch die Möglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs dorthin aus. Das heißt: Hier wandelt sich eine ehemals ländlich geprägte Gegend ins Städtische. Im Süden und Osten des Landkreises ist das noch anders.

In welchen Dokumenten werden Historiker in hundert Jahren stöbern können? Der Schriftverkehr im Landratsamt läuft ja heute großteils über E-Mail.

Das ist sicher ein riesiges Problem für unser kollektives Gedächtnis. Es gibt in manchen Gemeinden den Ansatz, dass man aus dokumentarischen Gründen regelmäßig einen Ausdruck wichtiger Daten vornimmt. Daran führt bislang kein Weg vorbei, weil mir momentan kein EDV-Fachmann garantieren kann, dass ich die Datenformate von heute noch in hundert Jahren lesen kann.

Das heißt, das digitale Zeitalter ist vergesslich?

Ja, sehr. Das wird uns noch massiv beschäftigen. Bisher haben wir Historiker ja schon das Problem, dass wir alte Handschriften nicht mehr lesen können. Künftig werden wir noch das Problem bekommen, dass wir alte Computerprogramme nicht mehr lesen können. Dann wird es wirklich schwierig. Aber eine Lösung hat bisher niemand.

© SZ vom 20.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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