Ebersberg:Fortwährender Kampf

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Frau weg, Kinder weg, Haus weg: Depressionen haben Helmut B.s Leben zerstört. Seine kleine Rente reicht kaum für das Nötigste. Ein Fahrrad würde ihm helfen, wenigstens mobil zu bleiben

Von Viktoria Spinrad

Es ist noch nicht einmal Weihnachten, doch Helmut B. muss bis zum Jahresende mit 60 Euro auskommen. Seine Rente reicht kaum zum Überleben. (Foto: Hans Wiedl/dpa)

An einem Sommertag im Jahr 2008 fährt Helmut B. in seinem Wagen auf der Autobahn und überlegt, sein Leben zu beenden. Und das, obwohl der Mann, der eigentlich anders heißt, nach außen hin alles hat: Einen Job, eine Frau, vier Kinder, ein Haus. "Ich war körperlich und seelisch am Ende", sagt der 53-Jährige heute und streicht sich über den Arm. Der Mann, kurze graue Haare, freundliches Gesicht, wässrige Augen sitzt am Küchentisch seiner kleinen Einzimmerwohnung. Die Milch auf dem Tisch, die Butter im fast leeren Kühlschrank kommen vom Discounter. Helmut B. ist seit drei Jahren Frührentner, wegen seiner Depressionen ist er arbeitsunfähig. Er lebt am Existenzminimum - und nimmt Psychopharmaka wegen der Krankheit, die 2008 ihren traurigen Höhepunkt erreichte.

Immer wieder wird er bitterlich weinen im Verlauf des Gesprächs, nach den Taschentüchern greifen, vor allem dann, wenn es um seine Kinder geht. Zu denen hat er kaum Kontakt, sie leben in Baden-Württemberg, für die Zugfahrten reicht das Geld nicht. Oder dafür, etwas am sozialen Leben teilzunehmen. Nach Abzug der Miete und der Zuzahlungen für die Medikamente bleiben ihm 200 Euro. Einmal in der Woche geht er zur Tafel, beteiligt sich an einer Tauschbörse für Dienstleistungen im Ort, "auch, um ein paar Kontakte zu knüpfen." Wenn er Frührentner bleibt, erwartet ihn die Altersarmut, "davor habe ich Angst."

Wie konnte es so weit kommen? "Das jahrelange Schauspielern vor den Menschen hat mich kaputt gemacht", sagt Helmut B. im Rückblick. Sein Schauspiel des "maskierten Clowns", wie er es nennt, begann bereits in der Kindheit. Von der Mutter mit dem Schlagstock gezüchtigt, von den Mitschülern gehänselt, entwickelte sich das Gefühl der Traurigkeit für ihn zum Dauerzustand. Helmut B. malt mit der Hand Wellen in die Luft. "Mal ging es auf, dann ging es wieder ab." Er duckt sich hinunter, zieht die Arme zu einer Schutzhaltung über den Kopf: "Manchmal habe ich nur so dagelegen."

Nach der Schule machte er eine Schreinerlehre, arbeitete dann im Baumarkt, gründete eine Familie. "Meine Beziehung hat mich genauso überfordert wie mein Arbeitsplatz", sagt Helmut B. Aber auch wenn die Seele schrie - nach außen wollte er funktionieren. "Ich dachte, ich schaffe viele Jahre und gehe dann in Rente." Während die Depressionen schlimmer wurden, tat er weiterhin so, als wäre alles in Ordnung - ein kraftraubendes Schauspiel, das bis zu dem Sommertag im Jahr 2008 anhielt. An dem Tag trifft er eine Entscheidung. "Ich wollte nicht sterben." Er wandte sich an einen Psychiater - nur, um wenige Wochen später wieder auf sich gestellt zu sein: "Mehr zahlte die Krankenkasse nicht."

Helmut B. verließ seine Familie, zog wegen der für ihn besseren Betreuungsmöglichkeiten vom Land in den Großraum München. Er hangelte sich von Job zu Job, lebte zuletzt im betreuten Einzelwohnen. Dann waren seine Ersparnisse aufgebraucht, man bat seine Kinder zur Kasse. "Das wollte ich nicht." Seitdem wohnt er in einer kleinen Einzimmerwohnung, wird ambulant therapiert. Ein gesetzlicher Betreuer regelt seine Finanzen. Helmut B. greift nach seinem Portemonnaie, heraus fallen 60 Euro - sein Restgeld bis zum Jahresende. Bis vor kurzem musste er eine dreistellige Nebenkosten-Abrechnung in Raten abstottern, "das merke ich gleich."

Um nicht wieder in ein tiefes Loch zu fallen, gibt er sich einen klaren Rhythmus vor: Mittwochs geht zur Tafel, an den anderen Tagen zu einer Tagesstätte. Dort trifft er andere Menschen mit psychischen Problemen, hilft in der Cafeteria mit und bei handwerklichen Arbeiten aus. "Dann bin ich ganz ausgeblendet", sagt er und sein Gesicht hellt sich auf. "Wenn ich arbeite, bemerkt niemand, dass ich krank bin, dass das Leben für mich ein großer Kampf ist." Um seinen täglichen Kampf mit dem schmalen Budget zu erleichtern, hat er einen Wunsch: Helmut B. hätte gerne ein Fahrrad, mit dem er zur Tagesstätte fahren kann.

© SZ vom 22.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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