Ebersberg:Sperrmüll statt Archiv

Lesezeit: 2 min

Fotos der ehemaligen Stolz-Villa in Vaterstetten und mehrere Ordner mit Korrespondenz hat Brigitte Schliewen am Straßenrand gefunden. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Historische Verein sorgt sich um den Umgang mit Nachlässen aus dem Landkreis: Historische Dokumente werden selten richtig aufbewahrt.

Von Anja Blum, Ebersberg

"Für spätere Historiker wird der Blick auf die jetzige Zeit vielleicht genauso verschwommen sein wie der heutige aufs Mittelalter", sagt Bernhard Schäfer, denn in beiden Fällen könnten nur noch Urkunden Aufschluss geben über die Vergangenheit. Damit spitzt der Vorsitzende des Historischen Vereins für den Landkreis eine Sorge zu, die ihn und seine Mitstreiter schon lange umtreibt: Dass die Digitalisierung und die damit einhergehende Vergänglichkeit alles Schriftlichen für die Geschichtsforschung verheerende Konsequenzen haben könnte.

"Welcher unserer Enkel schreibt denn heute noch Briefe?", fragt Brigitte Schliewen am Montag mit ernster Miene in die "Historische Runde" des Vereins. Diese hat sich in der Alten Post in Ebersberg versammelt, um über Nachlässe aus dem Landkreis zu sprechen. "Die echte Korrespondenz ist doch völlig aus der Mode gekommen, alles wird nur noch per E-Mail erledigt. Doch jede E-Mail wird früher oder später gelöscht", klagt die Kunsthistorikerin aus Vaterstetten.

Fotoalben eines geachteten Vaterstettener Zahnarzts landeten am Straßenrand

Doch nicht nur die Vision einer papierlosen Zukunft schreckt die Mitglieder des Historischen Vereins, auch den aktuellen Umgang mit den "Spuren eines gelebten Lebens" beobachten sie voller Sorge: Oft würden Kisten voller alter Fotos und Dokumente einfach auf dem Sperrmüll entsorgt, "aus Ignoranz und Bequemlichkeit", wie Schliewen moniert. Dabei seien solche Hinterlassenschaften häufig wahre Schätze, anhand derer sich gerade die regionalen Details der Vergangenheit wunderbar rekonstruieren ließen.

Als Beispiel nennt die Historikerin den Nachlass von Franz Stolz, eines Münchner Zahnarztes, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Vaterstetten zog und dort schnell zu einer beliebten gesellschaftlichen Größe aufstieg. "Doch heute ist diese Familie vollkommen vergessen", so Schliewen. Die sogenannte Stolz-Villa, ein prachtvolles Gebäude, musste einem Reihenhaus weichen, den Nachlass, mehrere Ordner voller wohlgeordneter Korrespondenz sowie mehr als ein Dutzend Fotoalben, fanden Mitglieder der "Kulturhistorischen Sammlung Vaterstetten" (KSV) in Kisten am Straßenrand.

Für Schliewen ein Frevel - und zugleich ein Glücksfall: Anhand der Bilder lasse sich zum Beispiel der Wandel Vaterstettens vom Dorf zum Siedlungsschwerpunkt sehr gut nachvollziehen. Vollständig ausgewertet allerdings seien die Stolz-Dokumente leider noch nicht: Die KSV musste ihre Bestrebungen bereits vor Jahren aus finanziellen Gründen einstellen, ihre Bestände gingen in das Archiv der Gemeinde über. "Aber ich tu', was ich kann", so Schliewen.

Ein Bild fand die Archivarin zusammengerollt hinter dem Ofen

Ebenfalls unermüdlich bemüht um das Bewahren und Verstehen der Vergangenheit ist Ebersbergs Archivarin Antje Berberich, die zweite Referentin des Abends. Wie sie berichtet, sind im Rathaus der Kreisstadt bereits einige, ganz unterschiedliche Sammlungen verwahrt: sei es vom Sänger- und Orchesterverein, von den beiden Rennfahrern Hans Attenberger und Josef Schillinger oder vom Sparkassendirektor Josef Lodermair. Aber auch zahllose Kunstwerke hat das Archiv zu bieten: von Hans-Heinrich Müller-Werther, Otto Dressler oder Elsa Plach.

Gerade von letzterer habe sie zahlreiche Werke vor der Zerstörung gerettet, so Berberich. "Die Bilder waren grauenhaft aufbewahrt: zusammengerollt hinter einem heißen Ofen zum Beispiel." Eine Zwangsräumung wiederum brachte die Archivarin auf die Spur des Schriftstellers Kurt Heuser, Freund von Hermann Hesse und des Verlagshauses Fischer sowie Mitglied der "Gruppe 47". In der Runde liest Berberich aus mehreren poetisch anmutenden historischen Schriftstücken und lässt so den Autor auf wunderbare Weise lebendig werden. Wie Heuser denn nach Ebersberg gekommen sei?, fragt jemand. "Das weiß ich noch nicht", antwortet Berberich und grinst verschmitzt.

Das Fazit des Abends aber ist ein Appell: Jeder möge bitte aufmerksam sein und potenzielle Erblasser oder Nachfahren ansprechen. Denn es sei sehr wichtig, interessante Nachlässe nicht dem Verfall preiszugeben, sondern entsprechenden Institutionen, Vereinen oder Archiven zukommen zu lassen, erklärt Schäfer. "Es gibt so viele verborgene Schätze, die noch gehoben werden müssen", so Schliewen.

© SZ vom 03.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: