Meist waren gar nicht so viele Leute da, und es gab auch kaum Berichte in den Zeitungen - trotzdem ist der "Aktionsraum 1" bis heute legendär, vor allem wegen des Buchs, mit dem das ganze Geschehen einst dokumentiert wurde. Auch Peter Kees, Konzeptkünstler aus Steinhöring, hat dieses Heft schon lange im Schrank - nun hat es ihn zu einem "Aktionsraum 2" inspiriert.
Im Zuge dessen nahm er auch Kontakt auf zu den Machern der ersten Ausgabe in München, wobei sich herausstellte, dass einer von ihnen, der Fotograf und Familientherapeut Peter Nemetschek, teils auch in Steinhöring lebt. Im Gespräch mit Kees berichtete der heute 83-Jährige also von dem eingangs erwähnten, seltsam fehlenden Zusammenhang zwischen Beachtung und Wirkung beim Aktionsraum 1 - und sagte seine Mitwirkung an der Wiederholung beim Ebersberger Kunstverein zu. Nemetschek wird bei der Eröffnung am Freitag, 25. September, ein paar Worte sprechen, außerdem stellt er eine Arbeit zur Verfügung, die auf ein Fotoprojekt aus den 70ern zurückgeht: Der Künstler nahm da einen tristen Wohnblock untere die Lupe, indem er seine Bewohner porträtierte und die Fotos groß in den Fenstern zeigte.
1969 riefen Peter Nemetschek, Mäzenin Eva Madelung und Alfred Gulden, Schriftsteller und Filmer, als avantgardistisches Kollektiv in München den Aktionsraum 1 ins Leben: ein Raum, in dem herkömmliche Werk- und Präsentationsformen vermieden werden sollten, um den neuen, institutions- und gesellschaftskritischen Bestrebungen in der Kunst einen öffentlichkeitswirksamen Auftritt zu ermöglichen. Der Aktionsraum fungierte dabei auch als Experimentierfeld, in dem das Publikum mit einbezogen, und der Vermittlung von Kunst in Form von Vorträgen und Diskussionen Rechnung getragen wurde. Und es funktionierte, zumindest laut Kees: Mit provozierenden, teils blutigen Performances habe der Aktionsraum 1 eine Öffnung des Kunstbetriebs erwirkt und dadurch langfristig auch Einfluss genommen auf die Gesellschaft.
Insofern ist es kein Wunder, dass Kees nun Bezug nimmt auf das Münchner Vorbild, denn auch er möchte Veränderungen anstoßen. "Wir befinden uns in einer Zeit, in der sich ein enormer gesellschaftlicher Wandel vollzieht, beschleunigt und forciert durch die Corona-Pandemie", schreibt er in seinem Vorwort zum Aktionsraum 2. "Menschen gehen auf die Straße, um sich gegen manche Entwicklungen zu wehren. Manche haben Angst vor der Zunahme der rechten Kräfte, andere fürchten chinesische Verhältnisse mit zunehmender Überwachung." Ob Digitalisierung, eine sich verändernde Arbeitswelt, ein rasant wachsender Kapitalismus, zunehmende soziale Problemstellungen sowie die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie: All dies müsse verhandelt werden. "Es geht um nichts weniger als die Frage, wie wir zukünftig leben wollen."
Also hat der Ebersberger Kunstverein einen Aktionsraum 2 ausgerufen, er findet statt vom 25. September bis zum 4. Oktober in der Galerie Alte Brennerei. Alle Interessierten sind aufgerufen, sich - in welcher Form auch immer - zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen zu verhalten. Es wird Raum geboten für Aktion, Diskurs, Kunst, Vortrag, Diskussion, Performance oder Film. "Das Publikum ist eingeladen zu lauschen, zu sehen, zu hören, zu erfahren und sich zu beteiligen."
Nun ist so ein Aufruf freilich immer ein Experiment. Wie viele Menschen melden sich, und mit welchen Ideen? Doch schon seit einiger Zeit steht fest: Der Aktionsraum 2 in Ebersberg wird so einiges zu bieten haben. "Ich bin sehr freudig überrascht über die große Resonanz", sagt der Initiator, es seien bereits sehr viele Beiträge zusammengekommen, "mitunter auf sehr auf hohem Niveau und von überall her". Das Thema scheine die Menschen eben zu bewegen. Herausgekommen ist ein spannendes Programm aus Vorträgen, bildnerischen Arbeiten, Performances, Filmbeiträgen, Diskussionsrunden und Interaktionen: "Input, Auseinandersetzung, Inspiration, Dialog, Gestaltung, Fragezeichen und Ausrufezeichen." Ziel sei es gewesen, "zuzulassen und nicht auszuwählen, die Beiträge lediglich zu ordnen und sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen", erklärt Kees. "Deswegen bin ich sehr froh, dass ich trotz der Corona-Diskussionen nichts zensieren musste." Unter den Bewerbungen seien weder Verschwörungsmythen, noch zweifelhaft Esoterisches oder gar rechtes Gedankengut gewesen.
Manche der Beteiligten kennen die Ebersberger bereits von der Jahresausstellung 2019, die unter Kees' Leitung zu einem Festival rund um den Sehnsuchtsort "Arkadien" avancierte. Preisträger Thomas Neumaier etwa wird wieder vertreten sein, Max Haarich oder Frenzy Höhne. Es sind freilich Ebersberger Künstler dabei wie Andreas Mitterer, Robert Gockner oder Johannes Gottwald, einige aus München, aber auch aus Den Haag, Berlin oder Düsseldorf kommen Beiträge. Das Programm ist jedenfalls so reichhaltig, dass hier nur ein paar Beispiele genannt werden können: Es wird einen Vortrag geben über Jugend und Innovation (Maurice Jorn), oder einen über den Künstler als Prophet (Reinhard Knodt), sowie einen Biergarten der Stille (Hans Winkler), auch einer Malperformance kann man beiwohnen (Zdenek Kotala). Überhaupt wird es stets etwas zu bestaunen geben in der Alten Brennerei, allerhand Bilder, Skulpturen, Installationen und Videos. Der Rapper, Aktivist und Slammer "Waseem", bürgerlich Achim Seeger, spricht und singt, der Abend gehört zum Programm der "Tage der Demokratie" im Landkreis. "Ein kleines Abenteuer vor der Haustür" möchte Petra Winkelmaier aus Ebersberg erleben, sie plant einen Testschlaf in der Galerie. Manuel Strauß aus Grafing hingegen will die "Kunden" befragen, zur aktuellen Rolle der bildenden Kunst. Und am Donnerstag, 1. Oktober, soll es einen komplett offenen Abend geben, an dem spontane Beiträge aller Arten möglich sind. "Eingeladen ist jeder und jede, sich einzubringen. Haben Sie Mut!"
Peter Kees ist und bleibt dabei der Kopf des ganzen Geschehens, er zeichnet verantwortlich für Konzept, Begleitung, Moderation und Klavierimprovisation. Auch um die Einhaltung der Corona-Bestimmungen muss er sich kümmern - und hofft deswegen auf gutes Wetter, so dass das ein oder andere im Hof vor der Galerie stattfinden kann. Doch die viele Arbeit bereitet dem Organisator keinerlei Kopfzerbrechen, ganz im Gegenteil, die Vorfreude sei riesig: "Der Aktionsraum ist mit ein inneres Anliegen", sagt er, "denn die Kunst hat in solchen Zeiten eine Verpflichtung, sich zu verhalten. Ich möchte einfach Optimismus und Gestaltungswillen wecken." Wichtig zu betonen ist ihm allerdings, dass all dies "ohne Geld" geschehe, keiner der Beteiligten werde für sein Engagement bezahlt. "Diese Selbstausbeutung der Künstler ist eigentlich ein Irrsinn", klagt Kees, "das dürfte man eigentlich gar nicht machen - wenn es nicht so wichtig wäre".
Fest steht bereits, dass der Aktionsraum 2 dokumentiert werden soll, auf jeden Fall auf einer Webseite mit Fotos, Videos und Texten, möglicherweise sogar in einem Buch. Der Kunstverein habe soeben staatliche Zuschüsse beantragt, sagt Kees, damit könnte eine solche Publikation finanziert werden. Schließlich hat der Vorgänger schon gezeigt, wie wichtig so etwas ist, um legendär zu werden.
"Aktionsraum 2" Beim Kunstverein Ebersberg, Alte Brennerei im Klosterbauhof, Öffnungszeiten: donnerstags und freitags von 17 bis 20 Uhr, samstags und sonntags von 14 bis 20 Uhr. Alle Infos zum Programm gibt's online unter www.kunstvereinebersberg.de/aktionsraum-2/. Fragen kann man richten per Mail an post@peterkees.de.