Anzing:Lichtblick in der Trostlosigkeit

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Ingeborg Nünke holt Kinder aus Wolinzy aus Weißrussland in den Landkreis. Der Ort ist heute noch stark von den Auswirkungen Tschernobyls betroffen.

Von Sophie Rohrmeier

Ingeborg Nünke hilft Kindern aus dem verstrahlten Wolinzy in Weißrussland. Foto: Christian Endt (Foto: Christian Endt, Fotografie & Lic)

Ti bollen? Das ist Russisch, in Lautschrift. Und es heißt: Bist du krank? Die Frage steht auf einem Zettel mit den wichtigsten Sätzen für den Alltag, den ab Sonntag einige Familien aus dem Landkreis mit Kindern aus Weißrussland teilen. Und diese Frage ist für die 52 Kinder aus der Sowchose Wolinzy sehr wichtig. Denn wenn sie hier ankommen, bringen sie eine besondere Belastung mit. Ihre Heimat und oft auch die Nahrung, die sie dort bekommen, sind verseucht. Von radioaktiver Strahlung aus dem 1986 explodierten Kernkraftwerk von Tschernobyl. Ein bedrückender Gedanken für Ingeborg Nünke. Deshalb holt die Gründerin der Anzinger Initiative "Hilfe für Kinder aus der Gegen von Tschernobyl" jedes Jahr wieder Kinder für einige Wochen hierher.

"Viele Kinder aus Wolinzy kommen krank zur Welt", erzählt die elegant-legere Frau mit halblangem, schwarz-grauem Haar. Ingeborg Nünke hat keine Berührungsängste mit der Welt der verseuchten weißrussischen Gebiete. Zehnmal schon war sie dort und sie weiß: Das Immunsystem der Kinder ist stark geschwächt, Leukämie und Krebstumore sind die Folge, fast alle leiden unter Schilddrüsenerkrankungen. Die Kinder leben in Holzbaracken, ihre Eltern sind oft Alkoholiker, die Kinder so vernachlässigt, dass manche drohen, zu verhungern. Zwei Kinder hat Nünke über die Initiative begleitet, die an Krebs starben. "Immer wieder bricht in der Ruine des Atomkraftwerks von Tschernobyl etwas ein. Dann pufft eine Wolke hoch und die regnet es dann über dem völlig verarmten Wolinzy ab." Dort, wo die Strahlung besonders heftig ist, weil die 1986 in Richtung Moskau ziehende radioaktive Wolke gezielt hier abgeregnet wurde.

Dieser Ort ist weit weg, aber Nünke empfand den Super-GAU schon immer als unmittelbar - in Anzing. "Ich habe es hautnah erlebt", sagt sie. Ihr jüngster Sohn war damals fünf Jahre alt. Sie konnte Lebensmittel für ihn kaufen, die sicher waren. "Aber ich dachte: Die dort müssen ihre Kinder damit füttern, was dort wächst." Die Erfahrung, dass die Politiker damals die Bevölkerung falsch informiert haben, wie ihr Lebenspartner und Schriftführer der Initiative, Robert Schmitt, sagt, hat sie zusätzlich angestachelt. Und dann hat sie zu einem Ort Kontakt aufgenommen, dessen Einwohner auch an Fehlinformation litten - aber in unermesslich größerem Ausmaß: Wolinzy.

Sobald 1991 die Grenzen in den Osten offen waren, wandte sich Nünke an die Botschaften, um betroffene Gegenden ausfindig zu machen. So stieß sie auf das Dorf, mit dem sie seither in enger Verbindung steht. Von der weißrussischen Stadt Korma aus fährt man über den Fluss Sosch und dann durch 25 Kilometer Wald. Rechts und links liegen evakuierte Dörfer. Ingeborg Nünke ist diesen Weg bereits zehnmal gefahren, in Konvois mit Lebensmitteln. Für diejenigen Menschen, die noch dort sind. Denn Wolinzy wurde nicht evakuiert. Es lag zu weit hinten im Wald. Für die Bewohner dieses Ortes war in den Hochhäusern kein Platz mehr, wohin die anderen, aus den weiter vorne liegenden Dörfern, gebracht wurden. "Dann hat man ihnen gesagt: Bei euch ist es nicht so schlimm mit der Strahlung", sagt Nünke. "Das stimmt erwiesenermaßen nicht."

Tote Tiere liegen auf der Straße, Tümpel sind verstrahlt. Bei einem ihrer Besuche begegnet Nünke einer alten Frau im Wald. Schön sei der, meinte die Greisin. Aber verstrahlt, antwortete Nünke. "Ja, unseren Kinder wachsen schon Flügel, die werden alle Engel", habe da die alte Frau gesagt. Eine Schule gibt es noch in Wolinzy. Alle 52 Kinder von dort können dank der Anzinger Initiative und den Gasteltern aus dem Landkreis Ebersberg im Sommer für vier Wochen dem dortigen, allumfassenden Mangel, der Strahlung entkommen. Hier können sie sich körperlich und seelisch erholen, Ausflüge machen, unbeschwert sein. "Viele wollen kaum zurück", erzählt Nünke. Doch auch nach ihrer Rückkehr sind sie nicht allein.

"Wo müssen die Kinder hin? Ins Leben", sagt die Gründerin der Initiative. In ihren Gastfamilien werden sie gut versorgt, sie werden in den Arm genommen, sie bekommen langsam Selbstbewusstsein. Aber nach den Sommerwochen in Oberbayern fahren sie zurück ins trostlose und zugleich übermächtig verstrahlte Wolinzy. Dauerhaft können sie von dort nur weg, wenn sie lernen. Mit 50 Euro im Monat von der Anzinger Initiative geht das. "Inzwischen macht jedes Kind eine Ausbildung. Das ist auch eine Form der Evakuierung."

Letztlich ist das Ziel, das Dorf Wolinzy aussterben zu lassen, sagt Robert Schmitt. "So schlimm das auch klingt. Die jungen Menschen müssen weg, dort soll niemand mehr alt werden." Ingeborg Nünke nickt zustimmend. "Die Leute müssen verstehen, dass Tschernobyl nicht nach 25 Jahren vorbei ist - und auch nicht nach 125 Jahren."

© SZ vom 21.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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