Die Isartürkin:Aufwachsen zwischen Atatürk und Franz Josef Strauß

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Die Türken lieben Kinder. Deswegen haben sie sogar einen offiziellen Feiertag. Und trotzdem gibt es Gründe, die Kinder lieber in Bayern zu erziehen - oder besser: einen Grund

Kolumne von Deniz Aykanat

Es ist das Jahr 1988, ich bin drei Jahre alt und gehe in Marmaris in den Kindergarten, einer türkischen Stadt am Mittelmeer. Heute ist mein großer Tag, genauer gesagt der große Tag aller türkischen Kinder. Es ist Yirmi Üç Nisan, also der 23. April.

Ich trage ein weißes Kleid mit Spitzenkragen und habe eine dermaßen rote Birne, dass ich wie ein Streichholz aussehe. Ich schleppe mich über einen Sportplatz, bei mir untergehakt meine Kindergarten-Freundin Aynur. Ihr Name bedeutet "Mondschein", und ich wünsche mir in diesem Moment wirklich sehr, der Mond würde auf uns herabscheinen und nicht die pralle Mittagssonne. Denn es ist zwar erst April, aber der April ist in der Türkei im Gegensatz zu Deutschland nicht erst seit der Klimakrise oft ein sehr heißer Monat.

Aynur und ich latschen durchgeschwitzt hinter einem Tross Soldaten her, die wiederum hinter einem Panzer marschieren. Der Tross bleibt abrupt stehen, weshalb auch wir verdutzt Halt machen. Es wird die türkische Flagge gehisst, Halbmond und Stern auf blutrotem Grund.

Am Rand des Sportplatzes, hinter Maschendrahtzaun, fuchtelt eine junge Frau inmitten von anderen eher reglos herumstehenden Menschen mit den Armen herum. Das ist meine Mutter. Sie hat zwei Wasserflaschen in jeder Hand und brüllt. Erst auf Türkisch: "Gel! Gel buraya!" ( Komm! Komm her!). Dann auf Deutsch: "Komm her jetzt!" Meinen ersten Yirmi Üç Nisan hatte ich mir als kleines Mädchen anders vorgestellt.

Der 23. April also: Das ist in der Türkei der "Tag der Kinder", ein offizieller Feiertag, der jedes Jahr staatstragend begangen wird. Eingeführt wurde er 1921 vom Begründer der modernen Türkei, von Atatürk. Er fällt zusammen mit der Eröffnung der türkischen Nationalversammlung. Ein Parlament für eine neue moderne Türkei. Und die Zukunft dieses Landes sollten natürlich die Kinder sein. Dementsprechend staatstragend wird dieser eigentliche Kindertag begangen: mit Folklore-Vorführungen auf Sportplätzen, Chorgesang - und Militärparaden. Schließlich galt die Armee in der Türkei mal als Hüterin der Verfassung.

Die Kinder sollen an diesem Tag aber eigentlich im Mittelpunkt stehen, und sie müssen weder in die Schule noch in den Kindergarten. Selbst wenn ich schon Schülerin gewesen wäre, hätte ich an jenem bullenheißen Tag allerdings lieber im Matheunterricht gesessen. Da ist es zwar auch grauenhaft, aber man verdurstet wenigstens nicht. Zum Glück gab es aber ja meine Mutter, die sich auch von militärischem Protokoll nicht beeindrucken ließ.

Aynur und ich hätten es an jenem 23. April fast nicht gewagt, uns vom Fleck zu rühren. Es wurde nicht gesprochen bei jener Zeremonie, die Soldaten blickten andächtig ins Leere und rührten sich nicht. Aber wir hatten letztlich dann doch mehr Angst vor meiner Mutter als vor den Soldaten, also gaben wir uns einen Ruck und rannten. Wie ausgetrocknete Steppenpferde hingen wir damals am Maschendrahtzaun. Es gibt Fotos davon, wie meine Mutter abwechselnd kaltes Wasser durch die Zaunlöcher in unsere Münder kippt wie an einer Tier-Tränke.

Ich erinnere mich daran, dass es dann doch noch ein ziemlich schöner Tag wurde. Die Militärparade war irgendwann zu Ende. Wir waren Dank des energischen Einschreitens meiner Mutter nicht verdurstet und freuten uns, den restlichen Tag nicht im Kindergarten, sondern am Meer verbringen zu dürfen. Der Kioskbesitzer überschüttete jedes Kind, das vorbeikam, mit Süßigkeiten. Der Simit-Verkäufer kniff mit Entzücken in meine Bäckchen und schenkte mir Sesamkringel.

Die Türken lieben Kinder und trotz des Fast-Verdurstens ihrer Tochter am türkischen Kinderfeiertag gerät meine Mutter heute noch ins Schwärmen, wenn sie sich daran erinnert, wie es ihr als junge Mutter zweier kleiner Kinder in der Türkei ergangen war. Mit welcher Freude sie überall empfangen wurde, wenn sie mich und meinen Bruder dabeihatte. Wie einfach es war, in der Türkei zu reisen, weil sofort jeder alles stehen und liegen ließ, um einer Mutter und ihren Kindern in den Bus zu helfen, Taschen und Kinderwagen in den Kofferraum zu hieven.

Auf ihr Drängen hin kehrten wir dann aber doch zurück nach Deutschland. Weil sie nicht wollte, dass mein Bruder und ich die einzigen blonden Schulkinder in ganz Marmaris sein würden. Dass wir uns immer als die Sonderlinge fühlen würden, weil wir nicht nur keine Muslime, sondern gleich völlig konfessionslos waren. Weil ihr der Militarismus und Nationalismus missfielen, den in der Türkei schon die Schulkinder eingeimpft bekamen.

Wie sich das für Eltern so gehört, wollte sie, dass es ihre Kinder einmal besser haben. Also auf keinen Fall so: Mein Vater musste als Schulkind in der Türkei der Fünfzigerjahre jeden Morgen, bevor der Unterricht losging, zum Fahnenappell. Die türkische Flagge wurde gehisst und die Nationalhymne gesungen. Anschließend wurde ein Eid abgelegt, der mit "Ich bin Türke, ehrlich und fleißig" beginnt und über ein "Oh großer Atatürk!" zur Schlussformel "Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke!" führt. Wer zu spät kam zu diesem pädagogisch wertvollen Patrioten-Mantra, bekam eine osmanische Ohrfeige.

Meine Mutter verbrachte ihre Kindheit zwar viele tausend Kilometer von meinem Vater entfernt. Was das pädagogische Konzept angeht, waren ihre Erfahrungen aber gar nicht so weit voneinander entfernt.

Zwar nicht osmanische Ohrfeigen, aber dafür bayerische Watschn kassierte meine Mutter als Schulkind in der Oberpfalz der Sechzigerjahre von den katholischen Ordensschwestern ihrer Grundschule, wenn ihr Rock zu kurz war. Am Sonntag herrschte strikte Gottesdienstpflicht mit anschließendem Abfragen durch die Eltern.

Lange konnte ich es mir deshalb nicht erklären, warum meine Mutter vor Personenkult, Islam und Obrigkeit ausgerechnet nach Bayern zurückfloh. Wo damals doch noch Franz Josef Strauß und die katholische Kirche das Sagen hatten. Also quasi der bayerische Atatürk und die andere dogmatische Weltreligion, die Frauen nicht leiden kann.

Wie sie mir später beichtete, spielte aber noch etwas anderes eine Rolle für unsere Rückkehr: Ja, in Bayern gab es Strauß und die Kirche. Aber die ließen sich viel besser ertragen mit einer ordentlichen Portion Leberstreichwurscht zum Frühstück. Ohne die hielt es meine Mutter in der Ferne einfach nicht mehr aus.

© SZ vom 14.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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