Das erste Mal auf dem Oktoberfest:Wenig Charme, viel Scham

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"Die Hände zum Himmel": Das Oktoberfest, ein Ort der Gemütlichkeit? (Foto: dpa)

Erwartet hatte sie: den Himmel der Bayern. Gelandet ist sie in einer Hölle der Gemütlichkeit. Unter verkleideten Betrunkenen. Unsere Autorin war zum ersten Mal auf der Wiesn unterwegs - ihre Eindrücke.

Von Jana Stegemann

Gute Wiesn-Geschichten bleiben gut. Wir haben die schönsten Texte der vergangenen Jahre aus dem Archiv gekramt. Dieser Artikel zum Beispiel erschien erstmals am 4.Oktober 2013.

Autorin Jana Stegemann schrieb damals:

Seit etwa einem Jahr lebe ich in München. Es ist mein erstes Oktoberfest. Ich war beim Karneval in Köln und in Rio de Janeiro. Ich habe sieben Jahre lang in einer ständig überfüllten Studentenkneipe in Münster gekellnert. Doch nichts davon hat mich auch nur annähernd auf das Oktoberfest vorbereitet.

"Ein Proooosit, ein Proooosit der Gemütlichkeit": An diesem Samstagabend um 19 Uhr im Hofbräuzelt trinken alle, als ginge um Mitternacht die Welt unter. Mit Gemütlichkeit hat das nicht mehr viel zu tun. Nur um sicher zu gehen, habe ich im Duden noch mal die genaue Wortbedeutung nachgeschlagen: "Gemütlichkeit, die ... (das Gefühl der) Behaglichkeit auslösende, zwanglose Geselligkeit, Ungezwungenheit, Gemächlichkeit". Aha, also genau das Gegenteil von dem, was an diesem Abend im größten Zelt des 180. Oktoberfestes passiert. Die Maßkrüge klirren. PROOOOOSIT!! Die Luft riecht nach Exzess, Schweiß, Bier, Bratenfett, süßlichem Parfüm und einer Menge Testosteron. Auf den Bänken, unter den Bänken, neben den Bänken prosten sich Australier, Amerikaner, Italiener und viele andere Nationalitäten zu.

(Foto: N/A)

Liam kommt aus der Nähe von Boston. Er kniet auf dem glitschigen Boden und klatscht mit seiner Hand immer wieder auf die Holzplanken. Plitsch-Platsch, Plitsch-Platsch. Schmutztröpfchen wirbeln in alle Richtungen. Liam lallt irgendwas mit "Fun".

"Joana. Du geile Sau!": Kollegen und Freunde aus München hatten mich gewarnt. Nicht am Italiener-Wochenende gehen. Das wird schlimm. Aber wie lautet eine alte Blockbuster-Regel: "Mit einem Erdbeben beginnen ..." Nach ausführlicher Recherche, was man tragen sollte und was nicht, habe ich für einen dreistelligen Betrag ein klassisches Dirndl in einem Münchener Traditionshaus gekauft. Dunkelblau und grün mit hellblauer Schürze, lang, ohne viel Schnickschnack. Die Dirndl-Bluse ist laut Verkäuferin "recht hochgeschlossen". Ich fühle mich trotzdem sehr nackt an diesem Abend. Aber im Grunde ist es völlig egal, was man trägt. Die meisten Menschen sind ab einem gewissen Pegel an diesem Abend wahl- und hemmungslos. In jeder Hinsicht. Es gibt Typen, die lallen jede zweite Frau an. Nach dem Streuprinzip, wahrscheinlich mit dem Gedanken: Irgendeine wird schon "Ja" sagen.

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Wir sind zu Viert und schieben uns im Schneckentempo durchs Zelt. Ich spüre warmen Atem in meinem Nacken. Ständig fremde Hände an meiner Taille, an meinen Schultern, an meinem Po. Ein Mittvierziger mit hochrotem Kopf und zu enger Samtweste hält mich am Handgelenk fest: "Na, Prinzessin". Ich halte mich an meiner Maß fest. Er sabbert mir auf die Wange, dann meiner Begleitung. "Viel Spaß euch Süßen", sagt er noch. Mir kommt der Wiesnhit "Halt a bisserl, bleib a bisserl stehen, lass dir zuerst ein Busserl geben, darfst auch wieder gehen" in den Sinn. Es ist, als hätten die meisten an diesem Abend die simpelsten Umgangsformen schlichtweg vergessen. Männer starren auf Brüste, Frauen starren auf Ärsche. Jeder grapscht und fummelt, als beginne am nächsten Tag der weltweite Zölibat. Es ist wie am Ballermann, nur ohne Strand. Aber wer auf die Wiesn geht, will es doch so, oder? "It's part of the deal, isn`t it", scherzt eine hübsche blonde Australierin im pinken Dirndl, die bereits zum dritten Mal zum Oktoberfest gekommen ist.

Das ganze Zelt grölt: "Komm, hol das Lasso raus, wir spielen Cowboy und Indianer." Genau das ist das Oktoberfest für viele: eine gigantische Spielwiese ohne Regeln. What happens on the Wiesn, stays on the Wiesn. Und so stört sich die 24-jährige Studentin Sarah nicht weiter an den Worten ihres verschwitzten Gegenübers, der ihr ins Ohr brüllt: "Später Ficken?" Wiesnromantik in ihrer reinsten Form.

"Und dann die Hände zum Himmel, kommt lasst uns fröhlich sein. Wir klatschen zusammen und keiner ist allein ..." Die Faszination Oktoberfest lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass die Wiesn ein Ort ist, an dem die meisten Besucher den Alltag so leicht ausknipsen können wie nirgendwo anders. Die Wiesn als eine Art Reinigungsritual. Als Oase im grauen Alltag. Endlich ohne Konsequenzen ausrasten. Die großen und kleinen Sorgen? Verschoben auf morgen. Auf dem Oktoberfest ist es zudem noch besonders leicht, sich als eine andere Person auszugeben. Besonders mit Promille.

Ich probiere es selbst aus. Ich spreche mit fremden Menschen. Ich erzähle ihnen Lügen. Nach der zweiten Maß gehen die mir ganz leicht von den Lippen. Philipp, der aus Hamburg zum Oktoberfest angereist ist, stelle ich mich als Victoria vor. "Und was machst du, wenn du nicht auf dem Oktoberfest bist?", fragt er. "Ich bin Assistenzärztin im Schwabinger Krankenhaus, am Wochenende gehe ich am liebsten Mountainbiken in den Bergen." (Ich hasse Mountainbiken und eine Ärztin war ich nur einmal, an Karneval vor fünf Jahren.) Ein Gespräch fällt schwer. Es ist sehr laut und Philipp sehr betrunken. Ich verabschiede mich. Er sagt: "Bis später." Ich antworte: "Ja, auf jeden Fall."

Worte sind hier nur Schall und Rauch. Wir sind am Ende des Zeltes angekommen. Nichts wie raus an die frische Luft. Ich bin ein bisschen enttäuscht: Den Himmel der Bayern - ich hatte ihn mir irgendwie schöner vorgestellt.

"Da hat das rote Pferd sich einfach umgekehrt und hat mit seinem Schwanz die Fliege abgewehrt." Die Kaltbluthengste Bruno und Moritz sind zwar nicht rot, sondern haben braun-graues Fell, aber durch ihre eindrucksvolle Statur und die wuchtigen Hufe schaffen sie es, die Wiesnbesucher auf Abstand zu halten. Es ist ein Herbst-Sonnentag. Perfektes Wiesnwetter also, wie der Radiomoderator morgens im Bad ständig betont. Ich habe Kopfschmerzen vom Vortagesbesuch. Der Himmel strahlt wie frischgewaschen. Die Brauereipferde stehen entspannt in der Sonne. Sie lassen sich weder davon beeindrucken, dass sie über und über mit allerlei Plaketten und Krimskrams dekoriert sind, noch von den unzähligen Besuchern, die sich für ein Foto neben sie stellen. Es ist mein fünfter Wiesntag. Ich war bisher morgens, mittags und abends auf der Wiesn. Ich war in Fahrgeschäften, Zelten und Biergärten. Irgendwann fühlt es sich gar nicht mehr komisch an, um 12 Uhr die erste Maß zu trinken. Gewöhnungssache.

An dieses merkwürdige Trinkspiel in vielen Zelten habe ich mich jedoch noch nicht gewöhnt. Das Spiel geht so: Männer, egal ob Unternehmensberater, Fliesenleger, Bauer oder Lehrer, messen sich in einer besonderen Disziplin: dem Exen einer Maß. Dazu steht der Trinksportler auf, damit ihn alle am Tisch besonders gut sehen. Unter dem Gejohle seiner Trinkkumpanen und dem der angrenzenden Tische gibt er dann sein möglichstes, um einen Liter Bier möglichst schnell zu schlucken. Wenn er es schafft, wird er mit frenetischem Jubel belohnt. Als hätte der mutige Trinker eine olympische Disziplin gewonnen oder gar für den Weltfrieden gesorgt. Dabei hat er nur seinen Schluckreflex überlistet. Es ist absurd. Aber ein Grundproblem der Wiesn: der Exzess. Bis es so richtig weh tut.

"Und ich flieg, flieg, flieg wie ein Flieger, bin so stark, stark, stark wie ein Tiger und so groß, groß, groß wie'ne Giraffe, so hoch." Ich stehe auf der Bierbank im Armbrüstenschützenzelt. Alle singen, grölen und klatschen. Es ist 20.02 Uhr, Dienstagabend. Wir sind mit einer Gruppe Arbeitskollegen dort. Die Stimmung ist gelöst. Das Zelt ist gut gefüllt, aber noch so, dass man gut von einer Ecke zur anderen kommt und niemandem auf die Füße tritt. Unsere Bedienung verteilt mit einem herzlichen Lächeln die bestellten Maß. Ich bin voller Bewunderung für die zarte ältere Frau. Den ganzen Abend wird sie uns freundlich und aufmerksam bedienen. Ich habe selbst sieben Jahre lang gekellnert, aber ich möchte ihren Job nicht in einer halben Million Jahre machen. Mein Arm wird müde. Seit Stunden halte ich den Bierkrug in der rechten Hand, gefühlt alle drei Minuten muss ich anstoßen. Immer dann, wenn alle schreien: EIN PROOOOOSIT, EIN PROOOOSIT DER GEMÜTLICHKEIT! Als nächstes dann der Klassiker: "Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere, unsere Liebe nicht. Alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu."

An meinem sechsten Tag auf der Wiesn bekomme ich das erste Mal einen Hauch davon mit, wie es ist, Teil der Wiesngesellschaft zu sein. Es ist so wie sonst auch im Leben: Mit den richtigen Menschen kann fast alles Spaß machen, manchmal wird ein Abend magisch. Warum? Das weiß am Ende niemand mehr so genau. Mein Dirndl fühlt sich langsam auch gar nicht mehr wie eine Verkleidung an. Um 22.50 Uhr verlassen wir das Zelt, gehen noch einen Absacker trinken und dann nach Hause. Als ich mit dem Rad nach Hause fahre, summe ich gedankenverloren: " Heut ist so ein schöner Tag, lalalala..."

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