Wegwerfgesellschaft:Das kann man noch essen

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Die Debatte über die Lebensmittelverschwendung wird bundesweit geführt. In Dachau verschenkt das AEZ seit einem Jahr Waren, deren Haltbarkeit abläuft. Das schont nicht nur Ressourcen, sondern macht auch das Containern überflüssig

Von Victor Ünzelmann

Dachau - Tomaten, Milch, Obst: Gerade beladen Mitarbeiter die "Food Share Station" im Amper-Einkauf-Zentrum (AEZ) im Dachauer Gewerbegebiet mit einer Menge Lebensmittel. Daneben steht Ralph Ulbricht, Geschäftsführer der Vertriebsabteilung des Großmarktes, und präsentiert stolz die neue Einrichtung. In die Station kommen Waren, die das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht haben, aber auch Lebensmittel mit kleinen Fehlern, wie die Konservenbüchse mit einer Delle. Die Kunden können sich die Esswaren kostenlos mitnehmen. "Wir sind Lebensmittelhändler mit Leib und Seele, das ist unsere Kernkompetenz", sagt Ralph Ulbricht. Es schmerzt ihn, wenn Nahrungsmittel, die eigentlich noch verwertbar sind, weggeworfen werden. Und das geschieht in Deutschland in erschreckendem Ausmaß: Elf Millionen Tonnen Lebensmittel landen jedes Jahr im Müll. Das Dachauer Einkaufszentrum hat vor ungefähr einem Jahr damit Schluss gemacht - und zieht jetzt eine befriedigende Bilanz der Aktion.

In der "Food-Share-Station" im AEZ direkt neben dem Kassenbereich liegen auch Lebensmittel mit kleinen Fehlern. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die "Food Share Station" ist zentraler Bestandteil der Aktion "zu gut für die Tonne". Ihr Ziel: auf das Problem der Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen und die Konsumenten zu einem verantwortungsvollem Umgang mit Lebensmitteln zu bewegen. Die Station steht neben den Kassen der Lebensmittelabteilung. Man habe sich bewusst für einen Platz entschieden der gut sichtbar ist, sagt Ralph Ulbricht. Die Spezialanfertigung kostete 3000 Euro und verfügt über eine Kühlschrank und ein tiefes Regal. Trotz der hohen Anschaffungskosten spricht der AEZ-Geschäftsführer von einer "Win-Win-Situation". Die Kunden freuten sich über kostenlose Lebensmittel, und das Einkaufszentrum habe seine Abfälle um rund zwei Drittel reduzieren können. Der Umsatz, den das Unternehmen mit Waren noch an ihrem Fälligkeitstag erwirtschaftet, ist laut Ulbricht so gering, dass der Verlust nicht sonderlich ins Gewicht fällt. Außerdem spart die Firma Entsorgungskosten. Finanzielles Kalkül, betont Ulbricht, sei aber nicht der Grund gewesen, weshalb man das Konzept umgesetzt habe.

Geschäftsführer Ralph Ulbricht präsentiert stolz die neue Einrichtung. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Schließlich darf ein Unternehmen schon auch einen finanziellen Vorteil haben, wenn es sich für Klimaschutz und Nachhaltigkeit einsetzt. Das wiederum führt auch zu einem Imagegewinn für das Einkaufszentrum. Mit jedem Nahrungsmittel, das unnötigerweise in der Abfalltonne landet, werden wertvolle Ressourcen verschwendet. Bei der Erzeugung (ohne die Verluste in der Landwirtschaft) und Verarbeitung, bei Großverbrauchern, im Handel und in Privathaushalten wandern gute Lebensmittel tonnenweise in den Abfall. Das ist, wie Experten und Umweltschutzverbände mahnen, nicht nur ein ethisches, sondern auch ein ökologisches und ökonomisches Problem. Immerhin werden sowohl für die Erzeugung als auch für die Vernichtung von Waren Rohstoffe, Energie und Wasser benötigt. Dabei wäre ein großer Teil der Lebensmittelabfälle vermeidbar. Daher haben die Vereinten Nationen das Ziel formuliert, die Lebensmittelverschwendung bis zum Jahr 2030 zu halbieren. Dem Ziel verpflichtete sich auch Deutschland. In einer gemeinsamen Strategie von Bund und Ländern sollen alle Akteure der Lebensmittelwertschöpfungskette eingebunden werden.

Für Kleintiere gibt es in der Futterbox Grünzeug. (Foto: Niels P. Jørgensen)

In Dachau Ost funktioniert das offenbar gut. Das geht so: Milchprodukte erhalten eine Woche vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums einen roten Aufkleber mit der Aufschrift: "50 Prozent reduziert". Am letzten Tag kommen sie dann in die "Food Share Station". Brot vom Vortag wird erst reduziert, was nicht verkauft wird, landet dann in der Station. Auch Salat oder Kohlrabistängel, die für Menschen nicht mehr wirklich genießbar sind, aber Hasen und anderen Kleintieren noch schmecken, kommen nicht wie bisher in den Müll, sondern in eine Futterbox, die neben der Station aufgestellt worden ist.

Lebensmittel, die ihr Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht haben, sind häufig trotzdem noch zum Verzehr geeignet. Im AEZ Dachau werden diese verschenkt. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Schlechte Erfahrungen hat seine Firma seit Beginn der Aktion, wie Ulbricht sagt, nicht gemacht. Die Kunden tragen nicht kistenweise gratis Lebensmittel zum Laden hinaus. Jeder nehme sich in der Regel ein paar Sachen, die er in den nächsten Tagen verwerte. Es gab auch noch keine Klagen von Kunden, die sich über Bauchschmerzen beschwert hätten. Das Einkaufszentrum beachte strikt den gesetzlich erlaubten Rahmen und bringe nur Lebensmittel in Umlauf, die noch über ein gültiges Mindesthaltbarkeitsdatum verfügen.

Die Debatte über die Lebensmittelverschwendung ist bundesweit entbrannt. Ein Fall aus dem Nachbarlandkreis Fürstenfeldbruck zog die Aufmerksamkeit überregionaler Medien auf sich. Zwei Studentinnen waren in Olching beim "Containern" erwischt worden. Das Amtsgericht verurteilte sie wegen Diebstahls, da sie Lebensmittel im Wert von 100 Euro aus dem Müll eines Supermarkts genommen hatten. Jetzt forderte der Hamburger Justizsenator Till Steffen (Grüne) auf der Justizministerkonferenz in Travemünde die Legalisierung des "Containerns", also der Entnahme von weggeworfenen Lebensmitteln aus Müllcontainern. Steffen scheiterte mit seinem Vorstoß an der Front aus unionsgeführten Ministerien. Jetzt will er zumindest für Hamburg einen Weg finden. In einem BR-Interview sagte er: "Wir wollen mit unserer Staatsanwaltschaft darüber reden. Sie hat nach der Strafprozessordnung die Möglichkeit, Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen." Anstatt sich durch Mülltonnen zu wühlen, kann man im AEZ einfach Lebensmittel gratis aus der "Food Share Station" mitnehmen. Ulbricht würde sich, wie er sagt, darüber freuen, wenn Mitbewerber sich bei ihm melden, um die Idee zu adaptieren. Es gehe darum, ein breites Bewusstsein für einen verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln zu schaffen.

© SZ vom 17.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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