Tassilo-Kulturpreis der SZ:Ich virtuell

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Die Künstlervereinigung Dachau schlägt ihr jüngstes und gleichzeitig neuestes Mitglied für den SZ-Tassilo-Kultur-Preis vor. Simona De Fabritiis befasst sich konsequent und auch schonungslos mit der Digitalisierung sowie deren Faszination und Folgen

Von Anna-Sophia Lang, Dachau

Eine junge Frau kommt in den Raum. Sie stellt sich vor den Betrachter und streckt den Arm aus. In der Hand hält sie ein Smartphone, die Kamera ist eingeschaltet. Auf dem Bildschirm sieht der Betrachter die Frau, die sich selbst aufnimmt. Sie lächelt entspannt. Die Haare fallen in geordneten Bahnen über ihre Schultern. Sie steht da, die Kamera auf sich selbst gerichtet. Nach einer Weile beginnt ihr Arm zu zittern. Es ist anstrengend, so lange so da zu stehen. Nach fünf Minuten wird das Zittern so stark, dass sie ihren Arm mit der anderen Hand abstützt. Bei Minute sechs wird ihr Atem schneller, sie bewegt die Finger, um das Smartphone besser zu greifen. Der Frau auf dem Smartphone-Bildschirm ist von alledem nichts anzumerken. Sie lächelt weiter, die Haare ordentlich wie eh und je, verzieht keine Miene.

Etwa neun Minuten dauert Simona De Fabritiis' Performance, die sie Ende 2015 für die Mitgliederausstellung der Künstlervereinigung Dachau (KVD) zum Thema Selbstporträts entwickelt hat. Fabritiis ist das jüngste Mitglied der KVD, sie ist gerade einmal 25. "Dreizehntausendfünfhundertund ein frame" hat sie ihr Werk genannt. Sie spielt auf die als Frames bezeichneten digitalen Segmente von Videos in Kombination mit dem Smartphone an, das als tatsächlicher Rahmen fungiert. Die Performance ist eine Auseinandersetzung mit dem Selfie. Es ist Fabritiis' bedeutendstes und zugleich charakteristischstes Werk. "Mein Versuch, aus der glatten, digitalen Sache etwas Greifbares zu machen."

Der Vorstand der KVD hat intensiv darüber beraten, wen von den jungen Mitgliedern sie für den SZ-Tassilo-Kulturpreis vorschlagen soll. Immerhin gewannen Agnes Jänsch und Nico Kiese in den vergangenen vier Jahren zwei der Hauptpreise. Die Vorstandsmitglieder einigten sich auf Simona De Fabritiis, weil sie den Aufbruch der Vereinigung mit vielen neuen jungen Künstler symbolisiert. Die KVD wurde in den Zwanzigerjahren gegründet.

Noten für Kunst zu geben, befremdet sie

Mit 25 Jahren ist Simona de Fabritiis das jüngste Mitglied der Künstlervereinigung Dachau. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Fabritiis' Eltern stammen aus Italien, sie wuchs in Karlsfeld auf, ging in Dachau aufs Ignaz-Taschner-Gymnasium. Sie machte eine Ausbildung zur Kommunikationsdesignerin, seit Herbst 2015 studiert sie in der Klasse des Konzeptkünstlers Res Ingold an der Akademie der Bildenden Künste in München. Sie hätte auch an die Hochschulen nach Kassel oder Braunschweig gehen können, aber Fabritiis wollte bleiben. Wegen des Renommees der Akademie, und weil Kunstpädagogik ein Teil ihres Studiums dort ist. Sie möchte später unterrichten. "Ich will nie den Druck haben, Kunst verkaufen zu müssen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen." Unabhängig zu bleiben vom Zwang, zu gefallen, ist ihr Ziel. Noten für Kunst zu geben, Werke zu bewerten, befremdet sie. Dass überhaupt ein Markt für Kunst existiert, empfindet sie als paradox. "Kunst sollte die freiste Sache der Welt sein." Als Studentin, sagt sie, könne sie der Kunst naiv begegnen. Ein Glück.

Vor allem hat sie sich für die Akademie entschieden, weil sie so in der Region bleiben konnte. "Ich will mein Ding erstmal in Dachau vor mich hin betreiben." Hier hat sie ihre Wohngemeinschaft und ein kleines Büro, von hier pendelt sie ins Atelier der Akademie und zu der Künstlerin, deren Assistentin sie ist. Im Sommer eröffnen sie eine gemeinsame Ausstellung. In Dachau kommt Fabritiis runter. Hier entspannt sie, hat Zeit, zu reflektieren. "Das geht schon bei der S-Bahn-Fahrt los."

Potenzial für junge Künstler

Doch Dachau zieht sie auch aus künstlerischer Perspektive mehr an als München. Hier sieht sie Potenzial für junge Künstler, für Studenten wie sich selbst, die noch unbeschrieben sind. Davon gebe es einige, sagt sie. Die KVD sei zwar auch für sie attraktiv. "Von dem Austausch mit älteren Künstlern profitiert man." Dennoch fehlt ihr in Dachau ein Ort, an dem sich der Nachwuchs regelmäßig austauschen kann. "Es passiert noch nicht genug Junges. Ich will zeigen, dass es das hier auch gibt."

In ihrer Kunst muss der Betrachter sich fragen, was real ist. Bei ihrer Selfie-Performance: Ist es die Frau, die er auf dem Bildschirm sieht, oder die Frau, die dahinter steht? Die eine ist schön, gelassen. Die andere zittert und schnauft. Und doch sind sie ein und dieselbe Person. Es sind solche Fragen, die sich Fabritiis stellt. "In der digitalen Welt wird so viel vorgetäuscht, aber nichts davon hat Substanz." Sie ist viel auf Facebook und anderen Plattformen unterwegs. Sie beobachtet, was andere posten, lässt die Inhalte auf sich wirken, und untersucht, wie die sie beeinflussen. "Bei mir bewirkt das nur, dass ich mich im Kreis drehe. Ich finde nicht zu mir." Internetplattformen, sagt sie, seien bloß flüchtige Unterhaltung, schnelle Information, Selbstinszenierung. "Es gibt in dieser Welt keinen Läuterungsmoment, keine Katharsis."

Hassliebe zu den sozialen Netzwerken

Dennoch nutzt auch sie Social Media, nicht nur für ihre Kunstprojekte. Mit den Netzwerken verbindet sie eine Hassliebe, die sie immer wieder mit sich selbst konfrontiert. Weil sie sich unbemerkt einem System fügt, obwohl sie doch eigentlich selbstbestimmt sein will. "Ich sehne mich nach der analogen Welt, aber flüchte mich in die digitale, weil da alles so einfach ist."

Darum geht es in der Performance "Dreizehntausendfünfhundertund ein frame" oder in der Videoinstallation "Monitoring and Confessions of a Virtually Addicted", die sie in der Ausstellung "1984" in der ehemaligen MD-Fabrik zeigte. Monitore, Kabel und anderes Zubehör für ihre Stücke sammelt sie über Kleinanzeigen und beim Wertstoffhof. "Die kennen mich da schon." Zuletzt hat sie viel mit Skulpturen gearbeitet, gerade experimentiert sie mit Virtual Reality. "Ich stehe noch ganz am Anfang", sagt sie über sich selbst. Gemeinsam ist allen Werken der Bezug zur digitalen Welt, dem Hang zu Selbstinszenierung und Selbstoptimierung.

Mitte Juni eröffnet Fabritiis ihre erste große Ausstellung in der KVD-Galerie. Sie wünscht sich, dass die Besucher die Ausstellung auf sich wirken lassen, ohne sich nach dem Sinn hinter jedem Stück zu fragen. "Kunst ist nicht zum Verstehen da. Sie ist da, damit man loslassen kann."

© SZ vom 02.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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