Das ganze Ausmaß des dramatischen Falls zeigt sich, als der Enkel in den Zeugenstand tritt. Bei seinem ersten Besuch im Pflegeheim Pro Seniore ist seine Großmutter noch wie immer gewesen. "Lebensfroh wie eh und je", beschreibt der Enkel ihren Zustand. Seine demente Großmutter hat fit gewirkt und einen eineinhalbstündigen Spaziergang mit ihrem Rollator gemacht.
Eine Woche später, als der junge Mann sie wieder besucht, bietet sich ihm ein "schockierender und dramatischer Anblick". Mit halb geöffneten Augen liegt die 83-Jährige apathisch im Bett, stark röchelnd und nach Luft schnappend, ihr Gesicht völlig eingefallen. Der Enkel erkennt seine Großmutter kaum wieder, "sie war dem Tode näher als dem Leben". Zwei weitere Tage später ist sie tot. Verdurstet. Und das, obwohl sie bereits in einem Krankenhaus in stationärer Behandlung war.
Wie kann so etwas passieren? Die Heimaufsicht des Dachauer Landratsamtes, die das Pflegeheim einmal jährlich kontrolliert, findet keine Erklärung. Über den Todesfall zeigt sie sich überrascht - zumal auch die anlassbezogene Prüfung unmittelbar nach dem Todesfall keine Mängel aufzeigen konnte. Im Gegenteil: Eigentlich genieße das Pflegeheim einen guten Ruf, "es ist ein gut geführtes Unternehmen", sagt Gerhard Weber. Der Pressesprecher des Landratsamtes geht von einem Einzelfall mit "dramatischen" Folgen aus.
Eine Vermutung, die durch ein Gutachten des Medizinischen Diensts der Krankenkassen (MdK), das Amtsrichter Lars Hohlstein vor Gericht verliest, gestützt wird. In dem Schreiben heißt es, dass Pro Seniore grundsätzlich keine Mängel vorweise, die Unterlassungen im vorliegenden Einzelfall jedoch als gravierend einzuschätzen seien.
Unterlassungen sind das richtige Stichwort. Begangen haben soll diese die 51-jährige Pflegedienstleiterin des Heims. Sie muss sich am Montag - stellvertretend für ihr Pflegepersonal - der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung verantworten. Der Grund: "Sie hat weder die Ernährungsprotokolle täglich kontrolliert, noch ihr Personal", legt die Staatsanwaltschaft ihr zur Last. Auch wenn die Angeklagte vom Pflegepersonal nicht über den schlechten Zustand der Patientin informiert worden sei. Sie müsse dennoch dafür sorgen, dass Problemfälle an sie herangetragen werden.
Die Angeklagte selbst weist alle Vorwürfe von sich: "Ich habe vom schlechten Zustand der Frau weder gewusst, noch sind die Angehörigen oder mein Personal an mich herangetreten." Dass sie sich keiner Schuld bewusst ist, wird auch daran deutlich, dass sie ohne Anwalt vor Gericht erscheint.
Eine Tatsache, die die 51-Jährige "inzwischen bereut", sagt Pro Seniore-Pressesprecher Peter Müller. "Sie wird nun in Berufung gehen - mit Anwalt. Wir wollen nichts beschönigen, der Fall ist mit Sicherheit nicht optimal gelaufen. Wir wissen nur, dass unsere Angestellte eine herausragende Pflegekraft mit viel Empathie ist", so Müller weiter.
Richter Hohlstein weist der Pflegeleiterin mindestens ein Organisationsverschulden zu. Mit seinem Urteil - 5400 Euro Geldstrafe - bleibt er jedoch weit unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die eine Freiheitsstrafe fordert.
"Es handelt sich um einen Fehler im System", sagt der Richter. Dass er mit seiner Annahme richtig liegt, wird im Laufe der Verhandlung immer deutlicher. Da sind zum einen die vom Pflegepersonal lückenhaft geführten Ernährungsprotokolle. Denen zufolge hat die Verstorbene täglich zwischen 300 und 1000 Milliliter getrunken. "Werte, die jeden Pfleger sofort alarmieren müssten. Unter 1000 Millilitern muss ein Arzt verständigt werden. Das ist absolutes Grundwissen", sagt eine Gutachterin aus der Rechtsmedizin.
Sie wundert sich, dass bei Stations- und Schichtleitung nicht weiter ermittelt worden sei. Denn primär liege die Schuld bei dem behandelnden Personal - und nicht bei der Angeklagten, die nicht informiert gewesen sei.
Einen Arzt zu rufen, genau das forderte übrigens auch der besorgte Enkel. Die Reaktion des Pflegepersonals: "Lächerlich, bei so einer Lappalie würde uns jeder Arzt auslachen." So zumindest berichtet es der Enkel.
Empört und aufgebracht erzählt er über die Versäumnisse des Pflegepersonals, das zu der Verhandlung nicht geladen war - aus welchem Grund auch immer. Fest steht, dass die Angehörigen der Seniorin am 28. November 2011 nicht länger zusehen wollten: Die Oma soll wieder nach Hause. Dafür beordern sie den Johanniter-Pflegedienst zum Altenheim, um den Transport zu übernehmen.
Der Fahrer, ein 20-jähriger Student, weigert sich aber, die Frau mitzunehmen. "Zu schlecht, zu dramatisch" sei deren Zustand gewesen, sagt der junge Mann im Zeugenstand. Mit Recht. Als der Enkel wenig später den Notarzt alarmiert, fährt dieser die Großmutter sofort ins Dachauer Krankenhaus. Dem Arzt in der Notaufnahme, der vor Gericht aussagt, fällt die völlig ausgetrocknete Haut der alten Frau auf. Er stellt eine eingeschränkte Nierenfunktion durch Flüssigkeitsmangel fest, die notwendige Flüssigkeitstherapie wird umgehend begonnen. Zu spät.
Einen Tag nach der Einlieferung stirbt die Frau. "Austrocknungsbedingtes Nierenversagen", benennt die Gutachterin die Todesursache. Alles andere sei auszuschließen. "Wäre die Frau zwei Tage früher behandelt worden, hätte man den Tod vielleicht verhindern können", sagt die Gutachterin.
Das Verhalten des Pflegepersonals sei für sie völlig unverständlich: "Was ein Zivildienstleistender auf den ersten Blick erkennt, sollte für Pflegekräfte auch möglich sein. Man hätte viel früher einen Arzt verständigen müssen." Ursprünglich sollte die 83-jährige Frau nur für wenige Wochen in das Pflegeheim, um sich von einem Sturz zu erholen. "Zu Tode hätte ich sie auch pflegen können", sagt die aufgebrachte Schwiegertochter.