Mitten in Dachau:Schnee von gestern

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Das winterliche Treiben weckt Erinnerung an die Kindheit  - schöne und weniger schöne

Glosse von Benjamin Emonts

Kindheitserinnerungen sind schön und kostbar - außer sie betreffen "Dina". Die inzwischen verstorbene Bernhardiner-Hündin, die auf einem nahegelegenen Bauernhof lebte, hat in der Psyche einen bleibenden Schaden hinterlassen. Nachdem sie sich regelmäßig von der Hofkette losriss, kam sie auch auf die Kinder aus der Ortschaft zugestürmt und sprang sie ziemlich ungestüm um. Böse Absicht wollte man Dina nicht unterstellen, aber die bösen Erinnerungen blieben. Derartige Erfahrungen brennen sich in das Gedächtnis von Kindern ein. Sie sind selbst im Erwachsenenalter noch präsent, obwohl man Dina längst verziehen hat.

Was Dina wohl von den heftigen Schneefällen in den vergangenen Tagen gehalten hätte? Vermutlich wenig, auf ihrem Bauernhof hätte sie buchstäblich die Schnauze voll vom ganzen Schnee. Bei den inzwischen erwachsenen Kindern, denen sie auf so fragwürdige Weise ihre Zuneigung zeigte, weckt das rege Schneetreiben indes viele schöne Erinnerungen. Beim Blick durchs Fenster am Montagabend, als es innerhalb weniger Stunden nur so vom Himmel geschneit hatte, stieg plötzlich ein Gefühl genau wie früher in einem auf. Man sah sich zurückversetzt in eine Zeit, als man morgens - man war damals noch deutlich früher als die Eltern wach - die Rollos hochzog und seinen Augen angesichts der Schneemassen kaum traute. Sofort machte sich ein euphorisches Gefühl breit. An der Bushaltestelle morgens konnte man sich sicher sein, dass der Schulbus in der nächsten Stunde nicht kommen und einem das Ausfragen in der Schule erspart bleiben würde. Am Nachmittag ging es dann mit den Freunden auf den dorfeigenen Schlittenberg, ausgerüstet mit selbst beschrifteten Mineralwasser-Flaschen, die als Weltmeisterpokale für anstehende Schlittenrennen dienten. Schneeballschlachten, Iglu bauen und Gesichter mit Schnee "einreiben" geschah noch nebenher. Und abends, wenn der Vater heimkam, galt es noch eine Mutprobe zu bestehen: Einmal im Laufschritt durch den verschneiten Garten und wieder zurück - selbstverständlich barfuß. Die böse große Schwester versperrte in der Zwischenzeit meistens die Tür, was zu brennenden Schmerzen an den Fußsohlen führte.

Solch schneereiche Tage wie jetzt hat man gefühlt seit Jahren nicht mehr erlebt, warum also nicht ein bisschen zum Kind werden? Anstatt bei der Freundin zu klingeln, wirft man einen Schneeball gegen die Scheibe. Und auch die Mutprobe barfuß im Schnee darf nicht fehlen. Eines fällt dabei auf: Der Schnee damals war deutlich kälter als heute.

© SZ vom 27.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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