Kulturschranne Dachau:Loderndes Klanginferno

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Bei dem Jazz-Projekt "An Ayler Xmas" spielen Klaus Kugel (Schlagzeug), Christian Meass Svenson (Bass), Thomas Berghammer (Trompete), Markus Heinze (Saxofon) und Knox Chandler (Gitarre). (Foto: Toni Heigl)

Mit dem Projekt "An Ayler Xmas" bringen Jazz e.V. und Mars Williams abgefahrene Weihnachtsmusik in die Kulturschranne. Für den verletzten US-Saxofonisten springt ein Ersatzmann ein, der dem Free Jazz alle Ehre macht.

Von Andreas Pernpeintner, Dachau

Ganz frisch ist das Weihnachtsalbum einer Jazzband auf den Markt gekommen. "Alle Jahre wieder" der "Jazzrausch Bigband". Als man es am Samstagmorgen dieses vierten Adventswochenendes erstmals hört, denkt man noch: Abgefahren arrangierte Weihnachtslieder. Abends geht es zum Jazz e.V. in die Kulturschranne, wo Mars Williams mit "An Ayler Xmas" gastiert. Und nach wenigen, ebenfalls weihnachtlichen Tönen will einem der Jazzrausch vom Frühstück wie ein sanft duftendes Tässchen Tee erscheinen. Das, was diese fünf Musiker abliefern, das ist abgefahrene Weihnachtsmusik!

Diese fünf? An diesem Abend ist Mars Williams' Quintett in Wahrheit ein Sextett. Kaum ist der deutsche Advent mal winterlich mit Eis und Schnee, schon legt es US-Saxofonist Mars Williams auf dem Weg Richtung Dachau in Dortmund am Flughafen auf dem rutschigen Untergrund hin. Aufs Gesicht. Kein Gedanke, mit der lädierten Lippe abends ein Saxofon blasen zu können. Was tun? Über persönliche Verbindungen eilt der Münchner Saxofonist Markus Heinze herbei. Am Nachmittag, wenn sonst nur der Soundcheck anstünde, wird geprobt. Und die improvisierte Freiheit des Freejazz, die auf Papier festgehaltenen musikalischen Hauptthemen und ganz besonders Heinzes grandioses musikalisches Können machen es möglich, dass er sich mit diesem minimalen zeitlichen Vorlauf abends auf die Bühne stellt und in exponierter Rolle schnatternd, kreischend und eindringlich melodieblasend den Brötzmann gibt - oder vielmehr den Mars Williams. Phänomenal.

Mit wild rudernden Armen facht er die Band an, als müsste er den Flammen Sauerstoff zuführen

Und Williams selbst? Er wird zum dirigierenden Bandleader. Wie James Last, durchzuckt es einen schelmisch. Aber der Vergleich ist natürlich blanker Unsinn, passender der zu US-Bandleader John Zorn von Programmkoordinator Axel Blanz. Nun Williams beim Dirigieren zuzusehen, ist köstlich. Er gibt seinen Musikern die notwendigen Einsätze - aber ein klassisch geschultes Dirigieren darf man sich hier zu keiner Sekunde vorstellen. Mit wild rudernden Armen facht er das lodernde Klanginferno seiner Band an, als müsste er den Flammen noch mehr Sauerstoff zuführen. Zwischendurch geht er zu seinem Spielzeugtischlein, wo allerhand kleine Flöten, Tröten und diverses Klimbim bereit liegen - fürs Flötepusten sind die Lippen heil genug. Und mitten im heftigsten Vulkanausbruch wispert er E-Gitarrist Knox Chandler den weiteren Fortgang des Arrangements ins Ohr. Chandler nickt, setzt sich und brettert mit einem Leadsound aus dem Zeitalter der Gitarrengötter ein Riff in die Saiten, das dem weihnachtlichen pyroklastischen Strom einen neuen Weg bahnt. Was für eine Performance.

Der verletzte US-Saxofonist Mars Williams übernimmt kurzerhand das Dirigieren. Zwischendurch geht er zu seinem Spielzeugtischlein, wo allerhand kleine Flöten, Tröten und diverses Klimbim bereit liegen - fürs Flötepusten sind die Lippen heil genug. (Foto: Toni Heigl)
Der Ersatzmann Markus Heinze aus München machte trotz minimaler Vorbereitungszeit dem Free Jazz alle Ehre. (Foto: Toni Heigl)

Welch ausgelassene Stimmung herrscht, ist damit umrissen. Welche Musik erklingt, muss noch zu erläutern versucht werden. Es sind - tatsächlich - Weihnachtslieder. Jingle Bells. O Tannenbaum. Little Drummer Boy. Weihnachtslieder, die man kennt - doch wie sie in dieser Form niemals auf dem Christkindlmarkt erklingen würden. Heinze und Trompeter Thomas Berghammer beginnen mit einem zweistimmigen Choral. (Man lernt an diesem Abend übrigens: Wenn man eine Trompete so ins Mikrofon bläst, dass man den Schalltrichter des Instruments komplett übers Mikrofon stülpt, klingt eine Trompete wie eine kräftig geblasene Posaune. Womöglich ein nützlicher Tipp für diejenigen, die selber Weihnachtslieder auf der Trompete spielen wollen und traurig sind, dass sie dafür keine Posaune zur Hand haben.) Eine Handbewegung von Williams, und Bassist Christian Meass Svenson und Schlagzeuger Klaus Kugel setzen als Klangfundament einen herrlich stampfenden, rumpelnden Motor in Gang. Nicht unerwähnt bleiben darf aber auch Svensons leise pulsierendes, klopfendes und auch gestrichenes Solo gleich nach der Pause, das in seiner intimen Stille - das lärmende Schrannen-Personal hat noch gar nicht mitbekommen, dass das Konzert weitergeht, oder es ist ihm mal wieder egal - einen dynamisch bemerkenswerten Kontrapunkt formuliert.

Jingle-Bells-Fugato als Kontrapunkt

Kontrapunktische Anklänge gibt es auch im köstlichen Jingle-Bells-Fugato von Berghammer und Heinze. Doch wirkt all das in keiner einzigen Sekunde auch nur ansatzweise akademisch. Was diesen Abend prägt, ist die betörende Lust am organisierten musikalischen Chaos. Wie sich Williams und die spielenden Musiker gegenseitig durch die weitgespannten Arrangements treiben, geleiten, wie sie voranstürmen und schreiten, in einem nie endenden Prozess von Verdichtung und Entspannung Kraft erzeugen und in diesen wirklich furiosen Klang, in dem man solches nie vermuten möchte, die bekannten Weihnachtsliedmelodien als fassliche und damit prägende Elemente einflechten, das ist einfach wundervoll.

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